Wald aus Glas: Roman (German Edition)
dass sie es geschafft hatte. Weder Annika noch ihr Vater war ihr nachgelaufen. Sie war über den Fußgängerstreifen gerannt, als die Ampel bereits auf Orange gesprungen war, vorbei an der alten Frau am Rollator, links in die Sechshauser Straße eingebogen und gleich darauf in eine Gasse nach rechts. Langsamer gegangen war sie erst, nachdem sie die dichtbefahrene Mariahilfer Straße überquert hatte. Wien roch anders als Suhr, als Sile, war ihr aufgefallen, abgestanden und ungelüftet wie ein alter Mantel, der Jahre in einem feuchten Kellerverlies gelegen hat. Auf der Strecke von der Mariahilfer Straße zum Westbahnhof war sie mehrmals aufgefordert worden, Geld zu spenden, man hatte sie um Zigaretten gebeten, um einen Euro für die Tram, einen Kuss. Ein Mann, der sie gefragt hatte, ob sie mit ihm mitgehe, er müsse ihr etwas sehr Interessantes zeigen, war ihr, mit sich selber redend, nachgegangen und dann plötzlich verschwunden. Vor einer Bäckerei hatte es nach verbrannter Milch gerochen, vor einem Wohnhaus nach Heizöl. Ayfer hatte immer wieder die Straßenseite gewechselt und sich in Hauseingänge und Toreinfahrten gestellt und abgewartet, ob Annika oder ihr Vater an ihr vorbeiging.
Der Schnellzug, in dem sie nun saß, fuhr bis Zürich, aber ihr Geld hatte nur für eine Fahrkarte nach Linz gereicht; die restliche Strecke musste sie schwarz reisen. Der Schaffner kontrollierte ihre Fahrkarte hoffentlich vor Linz, sie durfte ihm nicht auffallen, er musste ihr Gesicht sofort vergessen. Danach würde sie sich bemühen, auszusehen wie eine junge Frau, die ein gültiges Billet bis Zürich hatte. Sie würde mit ihrem Sitzplatz verschmelzen, würde sich in Luft auflösen. Bis auf eine Nonne, die sie freundlich begrüsst und sich dann in einen dicken Roman vertieft hatte, war das Abteil leer. Das Alter der Nonne konnte sie nicht abschätzen, ihr Gesicht und ihre Augen wirkten jung, doch sie hatte die Hände einer alten Frau. Sie trug blickdichte Strumpfhosen und Turnschuhe. Ayfer hatte ihre Tasche auf den Knien und hielt sie umklammert wie die alten Frauen, über die sie sich mit Dasara und Ajla in der Schweiz lustig machte. Entspann dich, sagte sie sich, du bist im Zug in die Schweiz, du hast vielleicht einen Mann erschlagen, aber es wird dich niemand dafür anklagen, denn es hat euch niemand gesehen. Sie fuhren durch Wiens Vororte, Bäume wischten vorbei, Zäune, in deren Maschen sich Abfall verfangen hatte, Gärten. Auf einem menschenleeren Bahnsteig stand ein verlassener Kinderwagen, in einer Wiese vor einem herrschaftlichen Haus lag ein roter Ball. Die Nonne kicherte, räusperte sich, sah sie verlegen an und senkte den Blick sofort zurück in ihr Buch. Ayfer stand auf, warf ihre Tasche ins Gepäckfach, setzte sich wieder hin und schloss die Augen, auf der Suche nach Davors Gesicht, seiner Stimme und seinen Berührungen, denen man anmerkte, dass er noch nicht viele Mädchen angefasst hatte, auch wenn er das Gegenteil behauptete und mit seinen Erfahrungen prahlte. Sie warmüde, einfach nur müde und sank langsam in das dunkle Gebiet, in dem er lächelnd auf sie wartete, er und andere. Ihr Mund fühlte sich taub an, aber sie brauchte nicht zu reden, ihre Augen waren geschlossen, trotzdem sah sie alles, sah sie ihn, groß und schlaksig, in sie verliebt. Du darfst mir die Fahne nähen, befahl sie, stand aufrecht vor ihm, stolz, nicht unnahbar, stolz, und legte ihm gütig die Hand auf den Scheitel, warf den Kopf in den Nacken und atmete den Himmel leer.
Ayfer öffnete die Augen und setzte sich aufrecht hin. Sie hasste es, an öffentlichen Orten einzuschlafen, weil sie dann immer ihren Vater vor sich sah, der in jedem Zug, jedem Bus und in jedem Wartezimmer, selbst im Kino und an Besuchstagen in der Schule einschlief und mit seinem offenen Mund, aus dem Speichelfäden hingen, aussah wie ein Idiot. Die Nonne warf ihr einen prüfenden Blick zu; sie hatte das Buch zugeklappt und auf das Tischchen unter dem Fenster gelegt. Der Zug fuhr jetzt schneller, die Achsen schlugen einen hektischen Takt, und Ayfer stellte sich vor, die Lok zerschneide die Landschaft wie eine böse scharfe Klinge, die alles niedermähte, was sich ihr in den Weg stellte.
»Hast du gewusst, dass es das alles erst seit 1946 gibt?«
Die Nonne hatte sich nach vorn geneigt; ihre Stimme war sanft, hatte aber einen unangenehmen Klang. Sie zwinkerte, beide Hände auf den Knien, und hielt die Augen geschlossen, als wolle sie betrachtet werden, betrachtet und
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