Wald aus Glas: Roman (German Edition)
Jetzt stand er vor ihr, und sie wollte nicht, dass er näher kam. Er sollte weggehen, sie brauchte ihn nicht, sie hatte sich getäuscht, getäuscht nicht nur in ihm, sondern genauso in ihr selbst. Nachmittags hatte sie mit Dasara und Ajla telefoniert, bis die Wertkarte des Handys leer gewesen war. Sie hatte beiden erzählt, dass sie in der Schweiz war, aber nicht verraten, wo sie sich versteckte.
»Ob du angerufen hast?«
»Geht’s dich was an?«
Ihre Stimme klang kälter, als sie beabsichtigt hatte; er sah sie erstaunt an, setzte sich ihr gegenüber an den Tisch undlegte seine rechte Hand neben ihre linke, berührte sie aber nicht. Sie aß, ohne ihn zu beachten, Fett tropfte aus dem Döner, Mayosauce, und sie nahm eine Serviette aus der Tüte und wischte die Tischplatte sauber. Dann strich sie ihm mit dem Zeigefinger über den Handrücken.
»Hast du ihn nicht mitgebracht?«
»Mitgebracht? Wen?«, fragte er und lachte unsicher.
»Nadir! Meinen großen Bruder.«
»Spinnst du! Er hat mich vor Haustür erwischt.«
»Und was hast du ihm erzählt?«
»Dass ich nichts von dir gehört hab, seit du in der Türkei bist.«
»Das hat er dir geglaubt?«
Davor zuckte mit der Schulter und räusperte sich. Wie jung er aussah, wie unsicher.
»Er hat mich gehen lassen. Ich hab eine Stunde in der Wohnung gewartet, drum bin ich spät. Ich bin durch den Keller raus und hab einen Riesenumweg gemacht.«
»Ist er dir nicht gefolgt?«
»Bin ich garschmal oder was!«
»Hat er dir geglaubt?«
»Nie im Leben.«
»Und wo ist er jetzt?«
»Woher soll ich wissen!«
Davor stand auf, wütend und unruhig. Sie zerknüllte die Serviette und warf sie in die Tüte. Ihr war übel, sie hatte zu schnell gegessen.
»Du musst mir das Handy zurückgeben«, sagte er, »es gehört meinem Onkel.«
»Ist eh leer.«
»Ich hab 40 Franken geladen! Du hast mich nie angerufen.«
»Ha, ha! Hast du keine Freunde?«
Das Gerät war feucht und warm. Sie legte es nicht in seine ausgestreckte Hand, sondern auf den Tisch, und er ließ es einen Moment liegen, bevor er es einsteckte. Erkennt er den Triumph in meinen Augen, oder sieht er wirklich nur sich selbst? Und warum bin ich nicht traurig?
»Weißt du, wie schwierig es war, das Scheißding zu dir in die Türkei zu kriegen?«
Jetzt war er wirklich wütend. Sie hatte erlebt, wie er von einer Sekunde auf die andere die Beherrschung verlor und sein Verhalten urplötzlich zu seinen Augen passte. Gemein und rücksichtslos.
»Danke«, sagte sie und blieb sitzen, »auch fürs Essen und so.«
»Wo willst du hin jetzt?«
»Mein Problem«, sagte sie.
»Meld dich bei ihnen, Mann. Die verzeihen dir. Ist doch nicht so schlimm. Was hast du schon gemacht? Du bist abgehauen dort, das ist alles.«
»Das ist alles«, wiederholte sie und stand auf.
»Die Nacht kannst du noch bleiben. Wenn du willst.«
Er schämt sich vor mir, dachte Ayfer, weil ihm alles zu viel geworden ist, er schämt sich, weil er mich im Stich lässt, aufgibt. Das machte es für sie noch einfacher, loszulassen. Er war kein Kämpfer, wie er vorgab, er war ein Typ mit einem großen Maul, mehr nicht, genau wie die meisten. Und was bist du, Ayfer? fragte sie sich. Wer? Die Genugtuung, zu betteln, er solle bleiben und sie nicht allein lassen, gestattete sie ihm nicht. War er ihrer Kälte gewachsen, konnte er damit umgehen,dass sie ihn gehen ließ? Es war ihm unmöglich, zu glauben, er habe ihr das Herz gebrochen, nicht bei ihrer Reaktion.
»Besser, du gehst«, sagte sie, »nicht, dass er dich hier findet, bei mir.«
»Ich muss sowieso. Wir haben Besuch. Von zu Hause.«
Die Zwiebeln des Döner stießen ihr auf. Sie schob die Papiertüte über den Tisch, weg von sich. Die Äste des Baumes klopften auf das Dach des Wohnwagens wie letzte Nacht, sie hob nicht wie er den Kopf deswegen. Sie sah die Angst in seinem unruhigen Blick, ein Flattern in den Augen. Zitterten seine Hände?
»Das sind die Bäume«, sagte sie, »was heißt von zu Hause?«
»Aus Kroatien. Familie. Tante und so. Nichten oder wie das heißt. Du weißt schon.«
»Morgen bin ich weg.«
»Aber du meldest dich. Ich will wissen, wo du bist. Garschmal?«
Sie nickte, brachte es aber noch immer nicht fertig, aufzustehen; sie war größer als er, das wollte sie ihm ersparen. Ich trau ihm nicht, das hatte sie gedacht, als sie sich das erste Mal begegnet waren, ich trau ihm nicht. Und doch hast du dich in ihn verliebt. Oder vielleicht deswegen? Du bist nicht wegen ihm hierher
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