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Wald aus Glas: Roman (German Edition)

Wald aus Glas: Roman (German Edition)

Titel: Wald aus Glas: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hansjörg Schertenleib
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viel zu früh war. Ihr Stiefvater hatte ihr als Kind beigebracht, auf Wetterzeichen zu achten und sowohl in den Wolken als auch in der Oberfläche des Sees und den Rauchfahnen zu lesen, die aus den Kaminen der Häuser stiegen. Zeigten die Blätter der Büsche in der Plankau an der Traun auf einmal ihre silbrigglänzenden Unterseiten als flirrende, aus tausend Teilchen bestehende Fläche,drohte Regen. Aufgefächerte, in die Länge gezogene schieferfarbene Wolkenbänder über dem Höllengebirge kündeten Schnee an. War die Felsbarriere des Toten Gebirges nicht von einer Unwetterfront zu unterscheiden, verhieß das den Dauerregen, der für Tage den Talkessel verdüsterte und die Menschen in die Schwermut trieb. Ihr Stiefvater hatte selbst in den unterschiedlichen Gerüchen, die der Wind vom Seebecken her übers Land trug, Wetterumschwünge vorausgesagt. Manchmal hatte er eine Handvoll frischer Sägespäne in den Wind gestreut, beobachtet, wie sie fielen, und danach auf die halbe Stunde genau einen Wolkenbruch prophezeit.
    Sie folgten dem Lauf des Baches Richtung Kohlstatt auf dem Fußweg, der mitten durch die Häuschen führte, die in den steilen Hang der Klamm erbaut worden waren. In den aschgrauen Schatten hinter den Häusern schwärmten Dohlen. Das war der Teil Ebensees, der Roberta schon als Kind am besten gefallen hatte; das Viertel wirkte noch immer dörflich und wie aus einer längst vergangenen Epoche. Irgendwo in der Nähe klirrten Hammerschläge, hier wusste Roberta auch, nach was es roch: nach Feuer und Kohlestaub. Vor einem lindgrün gestrichenen Haus mit spitzem Dach stand ein Auto mit offenem Kofferraum. Auf dem Beifahrersitz saß ein Mädchen, eine Frau um die Fünfzig trug eben eine Schachtel voller Lebensmittel aus dem Haus und stellte sie in den Kofferraum.
    »Darf ich ihn streicheln?«
    Das Mädchen sprang aus dem Auto und ging neben Prinz in die Knie, um ihn zu streicheln, ohne auf die Erlaubnis zu warten. Die Mutter, die Roberta mit hochgezogenen Brauen ansah, drückte den Deckel des Kofferraumes so behutsam ins Schloss, als wolle sie Prinz nicht erschrecken.
    »Es wird schneien«, sagte die Frau.
    »Das hab ich eben auch gedacht. Und das im September! Wissen Sie, ob ein Bus an den Langbathsee fährt?«
    Die Frau schüttelte den Kopf und öffnete die Tür hinter dem Fahrersitz. Das Mädchen hatte beide Hände auf Prinz’ Schädel gelegt, blickte ihn neugierig an und kicherte.
    »Aber Sie können gern mit uns mitfahren. Ich bring meinem Vater Lebensmittel. Er wohnt in der Kreh draußen, das ist nicht weit vom vorderen See, ich bring Sie hin.«
    »Au ja!«, rief das Mädchen und sprang auf die Beine.
    Es nahm Roberta die Leine aus der Hand, führte Prinz an die offene Hintertür des Autos, stieg ein und klopfte mit der flachen Hand aufs Polster. Prinz sah Roberta fragend an, ohne sich von der Stelle zu rühren.
    »Steigen Sie ein, kommen Sie«, sagte die Frau, legte ihr die Hand auf den Arm und setzte sich ans Steuer, »ist eh kein Umweg.«
    Roberta schnalzte mit der Zunge, und Prinz sprang auf den Rücksitz. Sie machte die Tür hinter ihm zu, ging um den Wagen herum und setzte sich auf den Beifahrersitz.

3
    Es war schon dunkel, als er endlich gegen die Tür des Wohnwagens klopfte, lang-kurz-kurz-kurz-lang, er klopfte zaghaft, als traue er sich nicht. Ayfer war eingenickt, die Plastikblume in der Hand. Es war kalt im Wohnwagen, auch der muffigeGeruch fiel ihr wieder auf, der sie letzte Nacht geekelt, an den sie sich aber bereits gewöhnt hatte. Sie stand auf und öffnete die Tür. Davor drängte sich an ihr vorbei, zog sofort die Tür hinter sich zu und stellte eine Papiertüte auf den Tisch. Der Geruch des warmen Essens erinnerte Ayfer an ihren Hunger; sie setzte sich, nahm den Döner aus der Tüte und biss gierig hinein. Sie hatte Teelichter und die Gaslaterne angezündet. Ihr leises Fauchen gab ihr seltsamerweise ein behagliches Gefühl.
    »Du musst weg hier«, sagte er, »mein Onkel.«
    Davor blieb vor der Tür stehen, als wolle er ihr nicht zu nahe kommen. Er trug die weißen Turnschuhe, die ihr nicht gefielen, weil sie viel zu stark glänzten.
    »Dein Bruder hat mich erwischt. Sie wissen, dass du hier bist hier. Hast du sie angerufen?«
    Ayfer nickte. In der Türkei hatte sie versucht, sein Gesicht vor sich zu sehen, hatte sich vorgestellt, seine Hände auf dem Rücken zu spüren, wenn er sie umarmte, seine Kraft zu fühlen, seinen Geruch aufzusaugen, als brauche sie ihn, um leben zu können.

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