Wald aus Glas: Roman (German Edition)
Kaffee?«
Roberta schüttelte den Kopf und erklärte der Wirtin, sie müsse sich die Beine vertreten und ihr Hund Prinz brauche Bewegung. Frau Kirchschlager nickte und nahm das Wallholz in die Hand. Über dem Küchentisch hing eine gerahmte Schwarz-Weiß-Fotografie, auf der eine Familie zu sehen war, Kinder und Enkelkinder, die sich um ein altes Paar versammelt hatten, das in ihrer Mitte auf zwei Stühlen Hand in Hand nebeneinander saß.
»Ist das hier Maria?«, fragte Roberta und zeigte auf die Frau in ihrem Alter.
»Das ist Mama, genau. Da war sie noch gesund.«
»Und Ihr Vater?«
»Wohnt im Heim, unten in der Lamba. Ziehen Sie wieder zurück nach Ebensee?«
»Genau, das hab ich im Sinn«, antwortete Roberta.
»Und die Schweiz?«
»Die wird’s auch ohne uns geben. Ich such eine kleine Wohnung für mich und den hier.«
Sie tätschelte Prinz’ Kopf, und er fing an, mit dem Schwanz zu wedeln und leise zu winseln.
»Da will tatsächlich einer raus«, sagte Frau Kirchschlager.
Die Fotografie war am Ufer eines Sees aufgenommen worden; auch von Robertas Familie gab es ein Bild, auf dem sie alle, die noch am Leben gewesen waren, versammelt vor einem See standen, die Eltern in der Mitte. Roberta erinnerte sich an die Augen ihres Stiefvaters, verschattet vom Blick zurück ins kalte Russland, in dem seine Brüder gefallen waren, erstarrt in der Druckwelle einer Panzergranate.
»Ist das nicht der Langbathsee?«
»Doch. Der Vordere. Zum Hinteren hätte Mama es leiderschon nicht mehr geschafft. Schad, was mit Ihrem Elternhaus passiert ist.«
»Meine Geschwister wollten das Land verkaufen. Mir wär’s auch lieber, das Haus würd noch stehen.«
Das Zweifamilienhaus, das auf ihrem ehemaligen Land hätte gebaut werden sollen, war nie fertig geworden, in der oberen Etage fehlten die Fenster, die Balkone waren ohne Geländer, das Grundstück verwahrlost und voller Bauschutt. Die Wohnung im unteren Stock war zwar offenbar fertig, doch sie stand ebenfalls leer.
»Schad, wirklich sehr schad«, sagte Frau Kirchschlager, »heut Abend haben Sie das Haus übrigens ganz für sich, wir sind in Gmunden eingeladen und kommen spät zurück.«
Roberta versicherte der Wirtin, dass sie den Hausschlüssel dabei hatte, dann verabschiedete sie sich und trat aus dem Haus.
Die Luft war kalt, dunkle Wolken hingen tief und bedeckten den Gipfel des Feuerkogels, auf dem sie als Kind so oft Skilaufen gewesen war. Sie hätte den Geruch, der in der Luft hing und sie an ihre Kindheit erinnerte, nicht benennen können, aber sie spürte, wie ihr Schritt leicht wurde. Der Steinbruch über dem See war finster und abweisend, das diffuse Licht sorgte dafür, dass die Felsterrassen wie eine gemalte Kulisse wirkten, die aufgebaut worden war, um der Landschaft das Liebliche auszutreiben. Die fünf gigantischen Granittreppen – sie sahen aus, als würden sie von Geröllströmen gespeist, die aus dem ewigen Eis abflossen und im Dunst verschwanden – schienen direkt aus den Wolken ans Seeufer zu führen. Dort sprühten Lichtreflexe.
Sie gingen seewärts, entfernten sich vom Garten ihrer Kindheit.Roberta wollte nicht vor dem unvollendeten Neubau stehen und zusehen, wie Fetzen von Zementsäcken im Wind tanzten, während sie sich an ihr Elternhaus mit seinen Schuppen und den Gartenzaun erinnerte, an ihren Thron, auf dem sie gesessen hatte, ruhig und selbstvergessen schaukelnd, obwohl sie es nicht erwarten konnte, bis Michael endlich aus dem Haus seiner Eltern trat und sich neben sie auf den Zaun setzte, um sie anzuhimmeln. Was wohl aus mir geworden wäre, wenn ich mich auf ihn eingelassen hätte, wenn ich ihn geheiratet hätte? Auch sein Elternhaus war längst abgerissen und durch ein Fertigbauhaus mit Wintergarten ersetzt worden. Michael war vor acht Jahren an einem Herzinfarkt gestorben, im Urlaub auf Madeira mit seiner Frau, am Strand vor dem Hotel.
Die Straßen, durch die sie gingen, waren menschenleer, die meisten Häuser, an denen sie vorbeikamen, waren in einem schlechten Zustand. Anders als St. Wolfgang, Bad Ischl und die anderen Touristenorte des Salzkammergutes wirkte Ebensee heruntergekommen, beinahe schäbig, doch genau das hatte Roberta immer gefallen. Bad Ischl war eine Inszenierung, Ebensee Wirklichkeit. Selbst in der Fußgängerpassage, die parallel zur Hauptstraße durch den Ortskern führte, begegnete ihnen niemand – auf der Brücke über den Langbathbach hatte sie plötzlich das Gefühl, Schnee liege in der Luft, obwohl es dafür
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