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Wald aus Glas: Roman (German Edition)

Wald aus Glas: Roman (German Edition)

Titel: Wald aus Glas: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hansjörg Schertenleib
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unten am Traunsee nach Roith, den Ortsteil ihrer Kindheit, hatte sie zu Fuß zurückgelegt, vorbei an Häusern, die sie kannte, an Vorgärten, an die sie sich erinnerte, an Mauern lang, an denen sie schon vor sechzig Jahren langgegangen war. Der Himmel war schieferblau gewesen, das Licht hart. Jeden schadhaften Dachziegel hatte es erbarmungslos offenbart, jeden Riss im Asphalt, jedes Büschel Unkraut. Roberta hatte sich als Fremde gefühlt auf ihrem Weg zurück in die eigene Vergangenheit, und doch hatte sie gewusst, es war richtig, hier zu sein, es musste sein, sie brauchte nur etwas Zeit, um die Wirklichkeit an ihre Erinnerungen anzupassen. Gib dich frei, hatte sie sich gesagt, gib dich frei und komm an!
    Du hast die Augen deines Vaters Robert! Wie oft hatte Mutter ihr das zugeflüstert, »du hast die Augen deines Vaters Robert!«, wenn ihr neuer, ihr zweiter Mann Johann nicht in der Nähe war, der, anders als Robertas leiblicher Vater, aus Russland zurückgekehrt war, nach drei Jahren Kriegsgefangenschaft in einem Lager bei Saporoshje, wo er in der Sperrholzfabrik gearbeitet und den Furnierleim gefressen hatte, um nicht zu verhungern. Ihr Stiefvater, den sie geliebt hatte und dem sie vertraute wegen seiner Gelassenheit, die von einer Trauer grundiert war, über deren Gründe er nicht zu reden brauchte. In seinen Augen hatte sie als Mädchen dieweite russische Steppe gesehen, eine Hitze, die in Wellen aus Feldern aufstieg, verharschten Schnee, der meterhoch lag, unter dessen Last Bäume krachend in die Knie gingen und Pferde und Soldaten krepierten. Sie mochte die Augen ihres Vaters Robert haben, wer weiß, aber sie hatte immer sehen wollen, was ihr Stiefvater Johann gesehen hatte, dieser von den Toten zurückgekehrte schmale, gebückte Mann mit der leisen Stimme und den warmen Händen.
    Roberta nahm den schwarzen Stein des Stadtstreichers, er lag auf Emmas Mandala, an dem sie mit ihrem Kugelschreiber weitergemalt hatte, und schob ihn in die rechte Hosentasche. Ihre Hand hatte sich an die Form des Steines gewöhnt, nachts hatte sie ihn von einer Hand in die andere gewechselt und war doch nicht eingeschlafen. Sie hatte mehr als zwei Stunden gebraucht, um den dritten Tag des Romanes »Frost« zu lesen, elf Seiten, am Fenstertischchen sitzend, zwischen ihrer Vergangenheit und der Welt des Buches hin und herreisend, elf Seiten, auf denen sie sechs Worte fand, die sie auf ihre Liste gesetzt hatte. Ich werde, nahm sie sich vor, das ganze Buch lesen, Satz um Satz, und meine Liste von Worten wird mehrere Seiten füllen.
    Dahinrudern
    Lichtblicke
    Charakterstärke
    Milchführer
    Kostbarkeiten
    Raubtiertatzen
    Sie hatte jetzt fast den halben Nachmittag am Fenster verbracht; Prinz lag auf seiner Decke am Fußende des Bettesund schlief, sie musste über ihn steigen, um zur Tür zu gelangen. Er erwachte, hob den Kopf, sah sie gähnend an und sprang auf die Beine. Sie nahm die Leine, die sie über den Türgriff gehängt hatte, und klinkte sie an seinem Halsband ein. Frau Kirchschlager hatte Prinz in ihrer Pension erlaubt, weil Roberta mit ihrer vor drei Jahren verstorbenen Mutter Maria zur Schule gegangen war, wie sie herausfanden, als die Wirtin Robertas Pass studiert und sie nach ihrer Verbindung zu Ebensee gefragt hatte.
    Im Treppenhaus roch es nach Kaffee, Roberta hörte Radiomusik aus der Küche. Prinz ging so dicht neben ihr die Stufen hinab, dass sie sich bei jedem Schritt berührten. An der Garderobe im Flur waren Windblusen in Leuchtfarben und ein Wetterfleck aufgehängt, wie ihn Robertas Stiefvater bei Regen getragen hatte, wenn er mit dem Rad zur Arbeit in den Ort hinuntergefahren war. Sie blickte durch die offene Tür in das Zimmer, in dem Frau Kirchschlager das Frühstück für ihre Gäste auftrug. Das Zimmer war frisch gestrichen, das hatte ihr die Wirtin berichtet, Tische und Stühle waren neu. Roberta sah, dass die Sitzflächen der Stühle mit Plastikschutzfolien überzogen waren, an der Kredenz lehnte ein Besen. Sie trat vor die Küchentür und lauschte, ob Frau Kirchschlager sich mit jemandem unterhielt, aber sie hörte nur Musik und das Gurgeln der Kaffemaschine und klopfte an die Tür. Die Wirtin öffnete nach so kurzer Zeit, als habe sie auf sie gewartet. Sie hatte sich eine Schürze umgebunden; auf dem Tisch war ein Teig ausgewallt, das mehlbestäubte Wallholz lag neben einer Backform für Gugelhopf auf der Küchenzeile.
    »Das Einzige, was ich backen kann«, sagte Frau Kirchschlager. »Eine Tasse

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