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Walden - Leben in den Wäldern: Erweiterte Ausgabe (German Edition)

Walden - Leben in den Wäldern: Erweiterte Ausgabe (German Edition)

Titel: Walden - Leben in den Wäldern: Erweiterte Ausgabe (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry David Thoreau
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allgemeingültige Formel zu konstruieren.
     
    Um auszufinden, wie genau ich nach meinem Prinzip die tiefste Stelle eines Teiches bestimmen könne (nur durch seine Umgrenzung und durch den Charakter seiner Ufer), machte ich eine Skizze vom Weißsee, der ungefähr vierzig Morgen bedeckt, und der wie Walden weder eine Insel noch einen sichtbaren Zufluß oder Abfluß besitzt. Und da die Linie der größten Breite nahe bei der Linie der kleinsten Breite lag, dort, wo zwei gegenüberliegende Vorgebirge sich einander näherten und zwei gegenüberliegende Buchten sich ins Land hinein erstreckten, so wagte ich es, einen Punkt, der nicht weit von dem kleinsten Breitendurchmesser, aber noch auf dem größten Längsdurchmesser lag als den tiefsten zu bezeichnen. In Wirklichkeit fand ich die tiefste Stelle hundert Fuß weiter in der Richtung, die mir von Anfang an allein in Betracht zu kommen schien. Hier maß ich sechzig Fuß, d. h. nur einen Fuß mehr als an der Stelle, die ich vorausbestimmt hatte. Würde eine Insel im Teich sich befinden, oder ein Fluß hindurchfließen, so würde dieses Problem natürlich viel komplizierter sein.
     
    Würden wir alle Naturgesetze kennen, so wäre eine einzige Tatsache oder die Beschreibung eines einzigen realen Phänomens genügend, um alle Schlußfolgerungen zu ziehen. Nun kennen wir aber nur einige wenige Gesetze, und was wir aus ihnen folgern, ist mangelhaft, selbstverständlich nicht deshalb, weil in der Natur Verwirrung und Regellosigkeit herrschen, sondern weil wir die für das Problem wichtigsten Faktoren nicht kennen. Unsere Ideen über Gesetz und Einheit sind gewöhnlich auf Beispiele aus der Empirie gegründet. Die Einheit jedoch, die aus einer weit größeren Zahl scheinbar sich widersprechender, in Wirklichkeit aber übereinstimmender Gesetze sich ergibt, ist noch wunderbarer. Die einzelnen Gesetze ähneln unseren Gesichtspunkten. Für den Wanderer ändern sich ja auch die Umrisse eines Berges bei jedem Schritt. Er sieht eine unendliche Anzahl von Profilen, obwohl die Form in Wirklichkeit immer die gleiche bleibt.Auch wenn wir einen Berg zerspalten oder durchbohren, werden wir ihn nicht als "Ganzes" begreifen.
     
    Was ich vom Teiche sagte, gilt mit der gleichen Wahrheit von der Moral. Auch die Moral steht unter der Lehre von den zwei Durchmessern. Diese Lehre führt uns nicht nur zur Sonne als zum Mittelpunkt eines Systems und zum Herzen des Menschen, sondern gibt uns auch, wenn wir Linien durch die Länge und Breite der Quintessenz des individuellen täglichen Menschenlebens, durch seine Lebenswellen bis hinein in alle Buchten und Zuflüsse ziehen, dort, wo diese Linien sich schneiden, über die Höhe oder die Tiefe des individuellen Charakters Aufschluß. Vielleicht brauchen wir nur zu wissen, wie seine Ufer verlaufen, wie das umliegende Land und seine Lebensbedingungen beschaffen sind, um uns über seine Tiefe, seinen verborgenen Grund klar zu werden. Ist er von Bergen, von einem achilleischen Ufer umgeben, überschatten Bergesgipfel seine Seele und spiegeln sich in ihr, so kann man daraus auf eine entsprechende Tiefe in ihm selbst schließen. Wo aber ein niederes, ebenes Ufer ihn begrenzt, dort ist er selbst seicht. Bei unserem Körper verrät die kühn gewölbte Stirn Gedankentiefe. Auch eine Sandbank liegt quer vor der Einfahrt zu all unseren Buchten oder besonderen Neigungen. Und eine jede Neigung ist eine Zeitlang unser Hafen, in welchem wir zurückgehalten werden und zum Teil auch verankert sind. Diese Neigungen sind meistens nicht durch Launen diktiert, sondern in Form, Größe und Richtung durch die Vorgebirge am Ufer – durch die alte Elevationsachse – bestimmt. Wenn diese Sandbank allmählich durch Stürme, Sturmstuten oder Strömungen zunimmt, oder wenn so viel Wasser abfließt, daß sie bis zur Oberfläche ragt, so wird die Stelle, welche anfangs nur eine Einbuchtung des Ufers darstellte, wo ein Gedanke vor Anker lag, zum selbständigen See. Er steht mit dem Ozean nicht in Verbindung. In ihm schafft jetzt der Gedanke sich seine eigenen Bedingungen. Er wandelt sich vielleicht vom Salzwassersee zum Süßwassersee, zum toten Meer oder zum Sumpf. Und sind wir nicht zu der Annahme berechtigt, daß bei der Ankunft eines jeden Menschen in diesem Leben eine Sandbank irgendwo auftaucht?Allerdings: wir sind solch klägliche Schiffer, daß unsere Gedanken meist an hafenloser Küste hin und her steuern, nur mit den Nothäfen in den Buchten der Poesie vertraut sind, den

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