Walden - Leben in den Wäldern: Erweiterte Ausgabe (German Edition)
seinen dürren Speer vom letzten Jahre in die Lüfte, während frisches Leben unten schon sich regt. Er wächst so stetig wie das Büchlein aus dem Boden sickert, ja, er ist identisch mit ihm. Denn wenn im Juni die langen Tage kommen und die Wässerchen austrocknen, dann sind dieGrashalme ihre Kanäle und Jahr aus Jahr ein trinken die Herden diesen unversieglichen, grünen Strom, welchem der Schnitter bei Zeiten seinen Wintervorrat entnimmt. So stirbt auch unser Menschenleben nur bis zur Wurzel ab und schickt dann wieder grüne Sprossen zur Ewigkeit empor.
Walden schmilzt immer mehr. Ein etwa neun Meter breiter Kanal hat sich an seiner Nord- und Westseite gebildet. Ein großer Eisfeld ist von der Hauptmasse abgebröckelt. Im Unterholz am Ufer trillert der Singsperling – olit, olit, olit ... chip, chip, chip, chie, tschrr ... chie wiß, wiß, wiß... Auch er hilft beim Eissprengen. Wie herrlich sind die großen, mannigfachen Windungen am Eisrand. Fast gleichen sie denen am Ufer, nur sind sie regelmäßiger. Das Eis ist ungewöhnlich hart infolge der letzten, strengen, wenn auch nur kurze Zeit dauernden Kälte und wohl gereinigt und gewellt wie der Fußboden in einem Palast. Vergeblich streicht indessen der Wind über seine durchsichtige Oberfläche, bis er die lebendige Oberfläche darunter erreicht. Dieses in der Sonne funkelnde Wasserband gewährt einen herrlichen Anblick: es ist das unverhüllte Antlitz des Teiches voll Lust und Jugend, das die Freude der Fische in der Tiefe und des Sandes am Ufer auszudrücken wünscht. Silbern glänzt es wie die Schuppen des leuciscus , als ob es nur ein munterer Fisch wäre. Das ist der Unterschied zwischen Winter und Frühling. Walden war tot und ist wieder zum Leben erwacht ... Allerdings ging das Erwachen in diesem Jahre, wie ich schon erwähnte, langsamer vonstatten.
Der Umschlag von winterlich stürmischem zu mildem, heiterem Wetter, von trüben und trägen zu hellen und tatkräftigen Stunden ist eine denkwürdige Krisis, welche sich in allen Dingen bemerkbar macht. Schließlich ist er wie mit einem Zauberschlage da. Eine Flut von Licht erfüllte plötzlich mein Haus, obwohl Winterwolken darüber standen, obwohl der Abend nahe war und aus den Dachtraufen Graupelregen herniederrann. Ich blickte zum Fenster hinaus und – siehe da! Wo gestern noch kaltes, graues Eis sich befand, lag jetzt der durchsichtige See bereits in voller Ruhe und hoffnungsfreudig wie an einemSommerabend, spiegelte in seinem Schoß einen Sommerabend wieder, obwohl er über ihm noch nicht sichtbar war. Es war, als ob er mit einem fernen Horizont im Einvernehmen stände! In der Ferne hörte ich ein Rotkehlchen. Zum erstenmal, wie mich dünkte, seit Jahrtausenden, lauschte ich seinem Lied. Und in vielen Jahrtausenden werde ich dieses Lied nicht vergessen – den alten süßen bezaubernden Sang aus der Ewigkeit ... O, Du mein Rotkehlchen, mein Genosse am Sommerabend in Neuengland! Könnte ich doch den Zweig finden, auf dem Du Dich wiegst! Ich meine gerade Dich! Ich meine auch gerade diesen Zweig ! Du gehörst sicher nicht zum Stamme turdus migratorius !... Die Pechtannen und Zwergeichen bei meinem Hause, die so lange die Köpfe hängen ließen, zeigten plötzlich wieder ihren altgewohnten Charakter, sahen heller, grüner, stolzer, lebensfroher aus, als ob sie durch den Regen wirklich gereinigt und erfrischt wären. Ich wußte, daß es nicht mehr regnen würde. Man braucht nur irgend einen Zweig im Walde, ja nur den Holzstoß anzusehen, um zu wissen, ob dieser Winter fortzog oder nicht. Als die Dunkelheit herabsank, schreckte mich das Honk – Honk der Wildgänse auf, die dicht über den Baumgipfeln dahinflogen, wie traurige Wanderer, die spät von südlichen Seen heimkehrten und schmerzvolle Klagen und gegenseitige Tröstungen sich zuriefen. Ich stand vor meiner Tür. Ihr Flügelschlag war deutlich zu hören. Doch als sie sich meinem Hause näherten und plötzlich mein Licht sahen, verstummte ihr Geschrei. Sie schwenkten nach dem Teich hin ab und ließen sich auf ihm nieder. Ich ging ins Haus, machte die Tür zu und verbrachte die erste Frühlingsnacht in den Wäldern ...
Am Morgen beobachtete ich die Gänse von meiner Tür aus durch den Nebel. Sie segelten mitten auf dem Teiche, etwa dreihundert Meter entfernt, mit so viel Lärm und in solcher Anzahl umher, daß der Walden den Eindruck machte, als sei er künftig für ihr Vergnügen hergerichtet. Sobald ich aber am Ufer erschien, stiegen
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