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Walden - Leben in den Wäldern: Erweiterte Ausgabe (German Edition)

Walden - Leben in den Wäldern: Erweiterte Ausgabe (German Edition)

Titel: Walden - Leben in den Wäldern: Erweiterte Ausgabe (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry David Thoreau
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ganze Baum ist nur ein Blatt. Flüsse sind noch größere Blätter; die zwischen ihren Windungen liegende Erde ist ihr Fleisch und die Städte und Städtchen sind die Insekteneier in den Winkeln, welche von den Abzweigungen gebildet werden.
     
    Nach Sonnenuntergang hört der Sand zu fließen auf. Am Morgen beginnen die Ströme jedoch aufs neue zu fluten, und zahlloseVerästelungen zu bilden. Hier kann man vielleicht beobachten, wie Blutgefäße sich bilden. Beim genauen Hinsehen bemerkt man, daß zuerst von der tauenden Masse ein Strom weichen Sandes, dessen Spitze wie ein Tropfen aussieht sich absondert, daß dieser Strom, wie eine Fingerspitze langsam und blind seinen Weg abwärts tastet, bis dann schließlich, während die Sonne höher und höher steigt und mehr Hitze und Feuchtigkeit sich entwickelt, der flüssigste Teil in seinem Bestreben, dem Gesetz zu gehorchen, dem auch der schwerfälligere Teil unterworfen ist, sich von dem Hauptstrom abtrennt und selbständig eine gewundene Rinne oder Arterie bildet, in welcher kleine, silberne Ströme von einem Teil der fleischigen Blätter oder Zweige zum anderen wie Blitze leuchten und bisweilen vom Sand verschlungen werden. Es ist wunderbar, wie schnell und mit welcher Vollkommenheit der Sand beim Fließen sich formt, indem er das beste Material, das in seiner Masse enthalten ist, benutzt, um die scharfen Ufer seines Kanals zu bilden. So mag es auch an den Quellen der Flüsse geschehen. Vielleicht ist in den Silikaten, die das Wasser absetzt, das Knochengerüst und in dem noch feineren Erdsediment und in den organischen Stoffen die Fleischfaser oder das Zellengewebe enthalten. Was ist der Mensch anders als eine Masse auftauenden Tones? Die Fingerspitze des Menschen ist ein erstarrter Tropfen. Die Finger und die Zehen stießen von der auftauenden Masse des Körpers nach der äußersten Peripherie des Körpers hin fort. Wer weiß, wie der menschliche Körper sich unter einem noch lieblicheren Himmel ausdehnen, wie er überströmen würde! Ist nicht die Hand ein Palmblatt mit seinen Läppchen und Adern? Das Ohr mit seinem Läppchen oder Tröpfchen kann man, wenn man die Phantasie zu Hülfe nimmt, als eine Flechte, umbilicaria , an den Seiten des Kopfes betrachten. Die Lippen ( labium von labor ?) sind Lappen oder Auslappungen an den Seiten der Mundhöhle. Die Nase ist augenscheinlich ein geronnener Tropfen, ein Stalaktit. Das Kinn ist ein noch größerer Tropfen – der Tropfenfall vom Gesicht sammelt sich hier an. Die Wangen sind von der Stirn in das Tal des Gesichtes hinuntergerutscht: durch die Backenknochen wurden sie aufgehalten und breiteten sich flächenhaftaus. Jedes abgerundete Läppchen eines Pflanzenblattes ist ebenfalls ein dicker, jetzt zaudernder, größerer oder kleinerer Tropfen. Die Zacken sind die Finger des Blattes, und so viele Zacken es hat, nach so vielen Richtungen will es fließen. Noch mehr Wärme oder andere ihm zusagende Einflüsse würden es veranlaßt haben, noch weiter sich auszubreiten.
     
    So hatte es den Anschein, als ob dieser eine Hügelabhang das Prinzip aller Naturvorgänge enthülle. Der Schöpfer dieser Erde patentierte nur ein Blatt. Welcher Champollion wird diese Hieroglyphe für uns enträtseln, damit wir schließlich ein neues Blatt umwenden können? Dieses Phänomen gewährte mir größere Freude als die üppige Fruchtbarkeit der Weingärten. Allerdings: es hat etwas Exkrementartiges in seinem Charakter und die Zahl der Haufen aus Lebern, Lungen und Gedärmen nimmt kein Ende, als ob der Erdball gewendet wäre und die Innenseite nach außen läge ... Aber man wird hierdurch wenigstens daran gemahnt, daß die Erde Eingeweide besitzt und auch hier die Mutter der Menschheit ist ... Das ist der Frost, der aus dem Boden kommt – das ist Frühling ... Er ist der Vorbote des grünen, blühenden Frühlings, wie die Mythologie der Vorbote der Dichtkunst an sich ist. Nichts reinigt uns besser von Winterqualen und Verdauungsschwäche. Er überzeugt mich, daß Mutter Erde noch immer in den Windeln liegt und ihre Kinderfinger nach allen Seiten ausstreckt. Frische Locken bedecken die nackteste Stirn. Nichts Anorganisches ist zu bemerken. Diese Haufen Laubwerk liegen den Damm entlang wie die Schlacken eines Ofens und beweisen, daß die Natur innen "unter Hochdruck" steht. Die Erde ist durchaus kein Fragment toter Geschichte, wo stratum über stratum , wie eine Druckseite über der anderen liegt, kein Fragment, das Geologen und Archäologen

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