Walden - Leben in den Wäldern: Erweiterte Ausgabe (German Edition)
kostbaren Kästchen mit sich nahm. Ein geschriebenes Wort ist die wertvollste Reliquie. Es ist etwas, was uns innerlich verwandt ist, und doch zugleich, mehr als irgend ein andres Kunstwerk, der Allgemeinheit angehört. Es ist das Kunstwerk, das dem Leben am nächsten steht. Es kann in jede Sprache übertragen, und nicht nur von allen menschlichen Lippen gelesen, sondern auch geatmet werden. Das Symbol des Gedankens eines antiken Menschen wird zur Sprache des modernen Menschen. Zweitausend Sommer haben den Denkmälern griechischer Literatur, den Marmorschöpfungen der Griechen nur einen reiferen, goldnen, herbstlichen Ton verliehen. Denn ihr eigener, heiterer, himmlischer Glanz trug sie selbst in alle Lande und schützte sie gegen die zernagende Zeit. Bücher sind der aufgespeicherte Reichtum der Welt und das reale Erbe von Generationen und Völkern. Bücher, und zwar die ältesten und besten, sollten mitFug und Recht auf dem Bücherbrett in jeder Hütte stehen. Sie haben selbst nichts zu ihrer Verteidigung vorzubringen, und doch wird der gesunde Menschenverstand des Lesers, den sie erleuchten und erbauen, sie nicht von der Hand weisen. Ihre Verfasser bilden einen natürlichen, unwiderstehlichen Adel in jeder Gesellschaft. Sie üben auf die Menschheit einen größeren Einfluß aus als Könige und Kaiser. Wenn der ungebildete und vielleicht noch obendrein zu hochmütigem Spotte veranlagte Kaufmann sich durch Unternehmungsgeist und Fleiß die erstrebte Muße und Unabhängigkeit erworben, in "tonangebende Kreise" Zutritt erhalten hat, so strebt er unvermeidlich schließlich doch den höheren, wenn auch unzugänglichen Kreisen des Geistes und des Genies zu. Er ist sich der Unvollkommenheit seiner Erziehung und der Nichtigkeit und Unzulänglichkeit all seiner Reichtümer bewußt. Darum zeigt er auch insofern gesunden Menschenverstand, als er sich Mühe gibt, seinen Kindern jene Geistesbildung angedeihen zu lassen, deren Mangel er selbst so schneidend empfand. Und erst auf diese Weise wird er zum Gründer einer Familie.
Wer nicht gelernt hat, die alten Klassiker in der Originalsprache zu lesen, kann nur eine höchst mangelhafte Kenntnis von der Entwicklung des Menschengeschlechtes haben. Denn es ist auffallend, daß sie noch niemals in einer modernen Sprache "nachgedichtet" sind – wir müßten denn etwa unsre Zivilisation als eine solche Nachdichtung ansehen. Bislang ist Homer noch nicht englisch gedruckt worden, auch Äschylos nicht und Vergil, und das sind doch Werke, so geläutert, so festgefügt, so schön fast wie der Morgen selbst. Spätere Schriftsteller aber haben, einerlei wie hoch wir ihr Genie veranschlagen, selten, wenn überhaupt je, die Alten in der sorgsamen Schönheit und Vollendung ihrer lebenslangen, heldenhaften, literarischen Arbeiten erreicht. Nur jene schwätzen gegen die Klassiker, die nie etwas von ihnen gekannt haben. Es wird noch zeitig genug sein, sie zu vergessen, wenn wir so viel gelernt haben, so viel Verstand besitzen, um sie zu begreifen und zu würdigen. Wahrhaft reich wird jenes Zeitalter sein, in welchem die Reliquien, die wir Klassiker nennen, und einige noch ältere und mehr als klassische, doch weniger gekannteheilige Schriften der Völker mit heißem Bemühen gesammelt sind, wenn die Vatikans mit Vedas, Zendavestas und Bibeln angefüllt sind, mit Homeren, Danten und Shakespearen, wenn all die späteren Jahrhunderte ihre Trophäen auf dem Forum der Welt aufgestapelt haben. Von solcher Höhe aus dürfen wir hoffen schließlich in den Himmel zu kommen.
Die Werke der Dichterfürsten sind bislang noch nie von der Menschheit gelesen worden. Dazu sind nur Dichterfürsten fähig. Sie wurden nur so gelesen, wie die große Masse die Sterne liest – höchstens astrologisch, nicht astronomisch.
Die meisten Menschen haben lesen gelernt, um einer armseligen Bequemlichkeit zu genügen, wie sie auch rechnen lernten, um Buch führen zu können, und um beim Handel nicht übers Ohr gehauen zu werden. Aber vom "Lesen" als einer erhabenen, geistigen Beschäftigung wissen sie wenig oder nichts. Und doch ist "Lesen" im wahren Sinn des Wortes nichts anderes. Jedenfalls nicht das, was uns wie der Luxus einlullt und den höheren Geisteskräften einstweilen zu schlummern gestattet, sondern das, was wir nur lesen können, wenn wir auf den Zehenspitzen stehen, wenn wir unsere wachsten, erleuchtetsten Stunden dazu verwenden.
Haben wir erst einmal die Buchstaben erlernt, so meine ich, sollten
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