Walden - Leben in den Wäldern: Erweiterte Ausgabe (German Edition)
halten solche Leute eine englische Zeitung. Und hat jemand eines der besten englischen Bücher gelesen: wie groß ist dann die Zahl derer, mit denen er darüber sprechen kann? Oder nehmen wir einmal an, jemand habe soeben einen griechischen oder römischen Klassiker im Original studiert – nun, da findet er überhaupt niemand , mit dem er sich darüber unterhalten kann. Er muß schweigen! Ja, an unsern Kunst- und Lehrerakademien gibt es keinen Professor, der, selbst wenn er die Schwierigkeiten der Sprache überwunden hat, auch in gleichem Maße die Schwierigkeiten beherrscht, welche in dem geistigen Gehalt und in der Poesie eines griechischen Schriftstellers liegen. Auch ist der Herr Professor nicht imstande dem kritischen, mutigen Leser Sympathie einzustoßen. Und was die heiligen Schriften, die Bibeln der Menschheit betrifft, somöchte ich einmal anfragen, wer in dieser Stadt kann mir auch nur ihre Titel nennen? Die meisten Menschen wissen gar nicht, daß außer den Juden noch andere Völker eine heilige Schrift besaßen. Ein Mensch, jeder Mensch wird ein gutes Stück von seinem Pfade abweichen, um einen Silberdollar aufzuheben. Hier aber gibt es goldne Worte, Worte, welche die weisesten Männer des Altertums verkündet haben und deren Wert von den Weisen aller nachfolgenden Zeiten bestätigt worden ist! Und doch lernen wir nichts als oberflächliche Bücher lesen, ABC- und andere Schulbücher, und wenn wir die Schule verlassen haben, erbauen wir uns an "kleinen Erzählungen" und Märchen, die für Knaben und Anfänger geschrieben sind. Unsere Lektüre, Unterhaltung und unser Denkvermögen bleiben darum auf einer Pygmäen und Zwergen angemessenen Stufe stehen.
Ich wünsche weisere Männer kennen zu lernen, als hier auf Concords Boden wachsen, Männer, deren Namen man hier kaum kennt. Oder soll ich den Namen Plato hören und nie sein Buch lesen? Als ob Plato mein Landsmann wäre und ich ihn nie gesehen hätte – mein nächster Nachbar, den ich niemals sprechen hörte, dessen weisheitsvollen Worten ich niemals lauschte! Wie aber liegt die Sache in Wirklichkeit? Seine Dialoge, die das enthalten, was an ihm unsterblich war, liegen auf dem nächsten Bücherbretts, und doch habe ich sie nie gelesen. Wir sind ungebildet, gemein und dumm. Und ich gestehe, in dieser Hinsicht gibt es keinen großen Unterschied zwischen der Unwissenheit meiner Landsleute, welche überhaupt nicht lesen können, und der Unwissenheit desjenigen, der nur lesen gelernt hat, was für Kinder und geistig Beschränkte paßt. Wir sollten so gut sein wie die besten Menschen des Altertums. So wollen wir uns denn zunächst einmal darüber unterrichten, wie gut jene wären. Wir sind ein Geschlecht von Zwergen, und unser Geistesflug reicht nicht viel höher als die Spalte der Tageszeitung.
Nicht alle Bücher sind so stumpf wie ihre Leser. Sie enthalten vielleicht Worte, die genau auf unsere Verhältnisse passen, die, wenn wir sie nur wirklich hören und begreifen würden, mehr Segen in unser Leben tragen könnten als der Morgen oder der Frühling. Sievermöchten vielleicht unsere ganze Lebensanschauung zu ändern. Wie mancher Mensch datiert eine neue Aera seines Lebens von der Lektüre eines Buches. Das Buch, das unsere Wunder erklärt und uns neue Wunder offenbart, existiert vielleicht irgendwo. Dinge, die bis lang nicht vor uns ausgesprochen wurden, finden wir vielleicht irgend wo ausgesprochen. Dieselben Fragen, die uns erregen und quälen und verwirren, haben verständige Menschen stets beschäftigt. Nicht eine einzige ist übergangen worden, und jedermann hat, je nach seinen Fähigkeiten, mit Worten oder mit seinem Leben darauf geantwortet.
Durch Weisheit lernen wir aber auch Hochherzigkeit. Der einsame Arbeiter auf einer Farm in der Nähe von Concord, der seine besonderen religiösen Anschauungen hat, der an seine Wiedergeburt glaubt und annimmt, daß ihn sein Glaube zu solch schweigender Würde und Unnahbarkeit gebracht habe – der einsame Arbeiter dort mag denken: das ist nicht wahr. Doch Zoroaster wanderte vor Tausenden von Jahren auf derselben Straße und hatte dieselbe Erfahrung. Doch er in seiner Weisheit wußte, daß sie keinem erspart bleibt, Darum behandelte er seine Mitmenschen dementsprechend. Er soll sogar den Gottesdienst erfunden und bei den Menschen eingeführt haben. So möge jener einsame Arbeiter denn in Demut mit Zoroaster und durch den befreienden Einfluß der besten Menschen mit Jesus Christus selbst sich beraten
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