Walden - Leben in den Wäldern: Erweiterte Ausgabe (German Edition)
aber wegen ihrer Erfahrungen, d. h. wegen der erlittenen Enttäuschungen für weiser halten. Ich habe in einem Hindubuch gelesen: "Es war einmal ein Königssohn, der war als Kind aus seiner Vaterstadt vertrieben. Ein Einsiedler im Walde zog ihn auf. Er wuchs dort zum Jüngling heran und glaubte, er gehöre zu den Barbaren mit welchen er lebte. Einer von seines Vaters Abgesandten fand den Jüngling auf und offenbarte ihm seine Herkunft. Er wurde über seinen Irrtum aufgeklärt, und hörte, daß er ein Königssohn sei. "So", fährt der indische Philosoph fort, "verkannte die durch äußere Einflüsse mißleitete Seele ihren eigenen Wert, bis ihr durch einen heiligen Lehrer die Wahrheit offenbart wird und sie weiß, daß sie " bráhman " ist. Wir Einwohner von Neuengland führen, meines Erachtens, deswegen ein solches Jammerleben, weil unsere Einsicht nicht einmal die Oberfläche der Dinge durchdringt. Uns gilt der Schein als Wirklichkeit . Wenn ein Mensch durch unsere Stadt wanderte und nur das Wirkliche sähe, wo, glaubt Ihr, würde dann der "Mühlweg" bleiben? Und wenn er uns über das, was er wirklich sah , erzählen würde, so würden wir den Ort nach seiner Beschreibung nicht wieder erkennen. Sieh Dir ein Versammlungs- oder Gerichtsgebäude, ein Gefängnis oder einen Laden oder ein Wohnhaus an, und sage dann, was solch ein Ding im Licht der Wahrheit ist – ja, da wird bei Deinem Bericht alles in Stücke auseinander fallen. Die Menschen glauben, die Wahrheit ist in weiter Ferne, an den Grenzen der Welt hinter dem letzten Stern, vor Adam und nach dem letzten Menschen. Allerdings, in der Ewigkeit liegt etwas Erhabenes und Wahres. Aber all diese Zeiten und Orte und Gelegenheiten sind jetzt und hier. Gott steht in diesem Augenblick im Zenith, und wird in der Flucht aller Äonen nicht göttlicher sein. Wir können nur dann Erhabenes und Edles begreifen, wenn wir ohne Unterlaß die uns umgebende Wirklichkeit mit allen Fasern aufsaugen. Der Kosmos entspricht immer und gehorsam unsern Vorstellungen. Ob wir langsam oder schnell reisen – der Weg ist uns vorgezeichnet. Das Leben verbringen und das Leben begreifen sei Eines nur. Kein Dichter oder Künstler hatte je einen so schönen Gedanken, daß ihn die Nachwelt nicht hätte ausführen können.
Laßt uns darnach streben, bisweilen einen Tag unsres Lebens mit derselben Überlegung zu verbringen wie die Natur, und nicht durch jede Nußschale oder durch einen Mückenflügel, der auf unserm Pfade liegt, aus dem Geleise gebracht zu werden. Wir wollen früh aufstehen und fasten, oder frühstücken ruhig und ohne Störung. Besucher mögen kommen, Besucher mögen gehen, die Glocken mögen läuten und die Kinder schreien – wir wollen gern auf solche Weise den Tag verleben. Warum sollen wir die Waffen strecken und mit dem Strome schwimmen? Laßt uns nicht untergehen und ertrinken in jenem schrecklichen Strudel, in jener Untiefe zur Mittagszeit, die man " diner " nennt! Entreiße Dich dieser Gefahr und Du bist gerettet, denn der übrige Weg geht hernach bergab! Mit Nerven von Stahl und mit der Kraft der Jugend fahre an dieser Klippe vorbei, sieh nach derandern Seite, an den Mast gebunden wie Odysseus. Wenn die Lokomotive pfeift, laß sie pfeifen, bis sie heiser wird. Wenn die Glocke tönt, warum sollen wir laufen? Wir wollen lieber darüber nachdenken, was das eigentlich für eine Musik ist. Wir wollen mit uns selber ins Reine kommen, uns mutig einen Weg bahnen durch den Dreck und Kot der Meinungen, der Vorurteile und der Tradition, der Täuschung und des Scheins, durch jene Schlammschicht, die den Erdball bedeckt, durch Paris und London, Newyork, Boston und Concord, durch Kirche und Staat, durch Poesie, Philosophie und Religion, bis wir auf hartem, felsigen Grund an einen Ort gelangen, den wir " Wirklichkeit " nennen und von dem wir sagen können: "Das ist, und ein Irrtum ist ausgeschlossen". Und erst dann, wenn wir einen " point d'appui " unter Wasser, Eis und Feuer gefunden haben, einen Ort, wo wir eine Mauer von Stein oder einen Staat errichten, ein Leuchtfeuer anbringen oder einen Pegel verankern können – kein Kilometer, sondern ein Realometer, damit künftige Zeiten erkennen, wie hoch die Wellen des Betruges und Scheines gingen – erst dann wollen wir unser Werk beginnen. Wenn Du eine Tatsache mit nacktem Auge scharf betrachtest, so wirst Du erkennen, daß die Sonne an ihren beiden Oberflächen leuchtet, wie ein Türkenschwert. Du fühlst wie die holde Schneide Dir
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