Walhall. Germanische Goetter- und Heldensagen
Die so umgestaltete Religion befriedigt nicht mehr, sondern sie verletzt, sie beleidigt die Religion in ihren edelsten Gefühlen.
Die Religion hatte Einheit der weltbeherrschenden Macht verlangt, der unerträglichen Buntheit der Erscheinungen zu entrinnen. Statt dieser Einheit drängt die vielgötterische Lehre dem religiösen Bewusstsein neben einer Drei- oder Zwölfzahl oberster Götter ein unübersehbares Gewimmel von Unter-Göttern, von Halb- und Viertels-Göttern, von Geistern und übermenschlichen Wesen aller Art auf, welche Luft und Wasser, Erde und Meer erfüllen. Fast jedes Naturerzeugnis ist durch einen besondern Gott oder ein Göttlein vertreten oder belebt und dieses unheimliche Gewoge buntester Willkür ist dem menschlichen Drang nach Einheit des Göttlichen unerträglich.
Vermöge ihrer sittlichen Bedürfnisse hatte die Religion von den Göttern Heiligkeit verlangt, d. h. Sündlosigkeit, Freiheit von den Schwächen und Leidenschaften des menschlichen Herzens; einerseits die Hoffnung auf gerecht gewährten, durch Tugend verdienten Schutz, anderseits das Schuldbewusstsein hatte ja ganz wesentlich zu der Annahme schuldloser Wesen beigetragen, welche, allweise und allgerecht, die menschlichen Dinge auf Erden leiten oder doch im Jenseits Lohn und Strafe nach Verdienst verteilen sollten. Nur zu einem heiligen, sündlosen Gott kann das Menschenherz hoffend oder reumütig flüchten. Statt dieser Heiligkeit findet das religiöse Bewusstsein in den vermenschlichten, von der Einbildungskraft weitergebildeten Göttergestalten nur das Spiegelbild alles dessen wieder, was der Menschenseele den Frieden stört; Schwächen, Leidenschaften, Schuld, ja Laster und Verbrechen aller Art; Eifersucht, Rachsucht, Neid, Hass, Zorn, Verrat, Untreue jeder Art, Gewalttat, Mord. Diesen Göttern, die man in so manchem Liebes- oder Streithandel nicht nach Vernunft, Moral und Gerechtigkeit, sondern nach ihrer eigenartigen Neigung und Sinnesart hat handeln sehen, kann man nicht vertrauen, dass sie in den Geschicken der Menschen gerecht und heilig entscheiden werden.
Man sollte glauben, schon auf dieser Stufe der Entwicklung müsste verzweifelnde Abkehr von der gesamten Anschauungsweise der Götterwelt erfolgen; aber noch werden auf dem Boden dieser Welt selbst – nach zwei Richtungen – Versuche der Abhilfe gemacht. Diese Versuche sind sehr anziehend; aber sie müssen scheitern.
Das Verlangen nach Einheit der Weltbeherrschung soll auf der gegebenen Grundlage des Viel-Götter-Glaubens dadurch befriedigt werden, dass einer der höheren Götter, welcher ohnehin auch bisher schon die andern überragt hatte, nachdrucksam als der oberste Leiter und Herrscher gedacht wird, so dass die übrigen hinter ihm völlig verschwinden. Es ist diese starke Überordnung ein Ersatzmittel für den verlangten, aber nicht erlangten alleinigen, einzigen Gott. Zeus, Jupiter, Odin wird als "Vater der Götter und Menschen", als "Allvater" gedacht; er allein entscheidet mit überlegener Macht die menschlichen Dinge, und zwar, wie man nunmehr nachdrücklich versichert, allweise, allgerecht, allheilig; – die andern Götter erscheinen nur mehr als seine Diener, Helfer, Boten und Werkzeuge.
Allein dieser Versuch kann nicht gelingen; die übrigen Götter sind einmal da, sie leben im Volksbewusstsein, das ihrer nie vergisst, vielmehr mit zäher Innigkeit an ihnen hängt; sind sie doch dem Menschen näher, vertraulicher, zugänglicher als der erhabene oberste Gott, welchen seine ernste Erhabenheit und die Unfassbarkeit seiner Grösse ferner rückt. Man wendet sich lieber, leichter, zutraulicher an die den Sterblichen näherstehenden unteren Götter und je an den besondersten Sachverständigen; man ruft um Erntesegen den Erntegott, um Liebesglück die Liebesgöttin an, man wendet sich später an die Heiligen, welche an die Stelle der alten Götter getreten sind, z. B. bei Feuersgefahr an St. Florian, bei Viehsterben an St. Leonhart. Dazu kommt, dass auch jener oberste Gott, trotz der Verkündung seiner Weisheit und Heiligkeit, keinen rechten Glauben für diese Tugenden finden kann. Einmal bleibt er, neben seiner jetzt so stark betonten Eigenschaft als allgemeiner Weltenlenker, doch daneben noch der Sondergott seines Faches, was er ursprünglich allein gewesen, und daher von den Forderungen dieses Gebietes beherrscht; Odin z. B. bleibt, auch nachdem er "Urvater" geworden, gleichwohl Gott des Sieges und der Schlachten und er hat, um die Zahl seiner Einheriar zu
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