Walhall. Germanische Goetter- und Heldensagen
Hellenen und Römern eingetreten, ziemlich früh bei jenen, verhältnismässig spät bei dem strenger gebundenen Wesen der letzteren, ist bekannt; sogar so altväterische Geister wie Aristophanes nahmen doch an dem Vatermord des obersten der Götter Anstoss. Minder bekannt ist aber, dass auch in dem germanischen Heidentum, nachweisbar wenigstens im Norden, schon vor dem Eindringen des Christentums sich merkwürdige Spuren ähnlicher Erscheinungen finden [Fußnote: Siehe hierüber Dahn; "Über Skeptizismus und Leugnung der Götter bei den Nordgermanen". Bausteine I, S. 133, Berlin 1880.] .
Solche Abkehr von dem Volksglauben kann nun aber immer nur unter einer geringen Zahl vorkommen; durchdringt sie die Gesamtheit, so ist dies ein höchst gefährliches Anzeichen des Niedergangs des ganzen Volksrums. Denn ein Volk kann eines volkstümlichen und befriedigenden Glaubens so wenig entraten, wie eines solchen Rechts oder einer solchen Sittlichkeit. Ist daher wirklich im grossen und ganzen ein Glaube unhaltbar geworden, so muss, sollt nicht dieses Volk und seine Bildungswelt untergehen, entweder ein neuer, die Bedürfnisse dieser Zeit befriedigender Glaube von aussen eingeführt – so das Christentum in den ersten Jahrhunderten der römischen Kaiserzeit in die römische Welt, – oder es muss der bestehende Glaube gereinigt, umgestaltet werden; – so das Christentum im 16. Jahrhundert durch die protestantische Reformation und auch durch die katholischen Verbesserungsarbeiten der tridentinischen Kirchenversammlung. –
Aber neben diesen beiden Mitteln ist noch eine dritte Lösung des verschlungenen Knotens möglich; diese dritte hat das germanische Bewusstsein ergriffen; sie ist die tragische.
Auch die germanischen Götter haben sich infolge des oben geschilderten freien Waltens der Einbildungskraft untragbar und unsühnbar in Gegensatz zu der Sittlichkeit gestellt, und das germanische Gewissen hat sie deshalb samt und sonders – zum Untergang, zum Tode verurteilt. Das ist die Bedeutung der "Götterdämmerung" –; sie ist eine unerreicht grossartige sittliche Tat des Germanentums und sie verleiht der germanischen Mythologie ihre tragische Eigenart.
Tragisch ist Untergang wegen eines unheilbaren Bruchs mit der gegebenen Friedensordnung in Religion, Sittlichkeit oder Recht.
Die Götterdämmerung eine Opfertat? eine Tat grossartigster Sittlichkeit? Ja wahrlich, das ist sie!
Denn erinnern wir uns, was wir über Entstehung und Wesen dieser Götter festgestellt; diese germanischen Göttergestalten, welche Walhall bewohnen, was sind sie anders, der kluge, ratspinnende, völkerbeherrschende und zum Kampfe treibende Siegeskönig Odin, der Abenteuer suchende, Riesen zerschmetternde Hammerschleuderer Thor, ja Freya und Frigg im goldenen Gelock, was sind sie anders als die Männer, Frauen und Mädchen des Nordlandes selbst, nur veredelt, ausgerüstet mit den Gewaffen und Gerät, den gesteigerten und dauernden Eigenschaften und Vorzügen der Macht und Kraft, des Reichtums, der Jugend, Schönheit, welche diesen Männern und Frauen als ihre eignen verkörperten Wünsche, als ihr eignes verklärtes Spiegelbild erschienen, aber zugleich als ihre höchsten Ideale? Und diese Lieblingsgestalten der eignen Einbildungskraft und Sehnsucht, das ganze selige Leben in Walhall, mit Kampf und Jagd und ewigem Gelag, im glänzenden Waffensaal unter den weissarmigen Wunschmädchen – des Herzens schönster Sehnsuchtstraum – haben die Germanen ihrem höchsten sittlichen Ideal geopfert; das ist das teuerste aller Opfer und unerreicht von allen andern Völkern.
Zwar erzählen auch andre Götterlehren von untergehenden, durch neue Sippen gestürzten Göttergeschlechtern; allein das sind teils geschichtliche Erinnerungen (Gegensätze von Völkern), teils Wirkungen der fortschreitenden Bildung, welche die älteren, einfacheren Naturgötter verwandelt und vergeistigt (Titanen, Riesen). Dass aber die gesamte Götterwelt, weil sie dem sittlichen Bewusstsein, unerachtet ihrer Herrlichkeit und Lieblichkeit, nicht genügt, zum Untergang verurteilt wird, begegnet sonst bei keinem Volk. In der Prometheus-Mythe der Hellenen klingt zwar einmal von fernher ein ähnlicher Ton an; Zeus wird zur Strafe für seinen an Kronos verübten Frevel Untergang ebenfalls durch einen Sohn geweissagt; – aber es wird mit diesem Gedanken nicht ernst gemacht. Kaum ein flüchtiger Wolkenschatte fällt von dieser dunkeln Warnung her in den goldenen Saal der Olympier;
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