Walhall. Germanische Goetter- und Heldensagen
Grunde zu liegen; die fragliche Stelle der Edda, welche hiervon und von der Zauberin Gull-veig ("Gold-kraft"-Spenderin) handelt, die (von den Wanen her kam?) Götter und Menschen verführte und von jenen zur Strafe getötet wurde, ist aber immer noch nicht voll befriedigend erklärt. Erst wann "die drei mächtigen Mädchen aus Riesenheim", die Nornen, kommen, kommt auch das Schuld- oder Schicksalbewusstsein zu den Göttern. Man nimmt an; nach Tötung der wanischen Zauberin (war diese Tötung gerechte Strafe oder bereits Frevel?) kam es zum Krieg mit den Wanen; "Odin schleuderte zuerst den Speer in das feindliche Kriegsvolk"; das ward der erste Krieg. In diesem erfochten die Wanen solche Erfolge, dass die Asen hart bedrängt, die Ringwände ihrer Burg zerbrochen waren; da schlossen die Asen Frieden; sie zahlten zwar nicht, wie verlangt ward, Schatzung wie Besiegte, aber sie nahmen die Wanen als Genossen in einen Götterstaat auf. Um eine neue Burg zu erhalten, schlossen sie Vertrag mit einem riesischen Baumeister, diesem sehr leichtsinnig gelobend, was sie nie entbehren konnten; den Vertrag zu erfüllen, wird durch Arglist Lokis dem Riesen unmöglich gemacht, der Riese selbst – gegen feierlichste Eide – erschlagen (s. unten Buch III, I); von da an tobt nie endender Krieg gegen die Riesen; – schon vorher war ja jedenfalls Krieg mit den Wanen und vielleicht Verschuldung der Götter gegen Gull-veig eingetreten.] , Bestechlichkeit, Neid, Eifersucht und, aus diesen treibenden Leidenschaften verübt, Mord und Totschlag müssen sich die zu festlichem Gelag versammelten Götter und Göttinnen vorwerfen lassen; wahrlich, wenn nur die Hälfte von dem ihnen (von Loki) vorgehaltenen Sündenverzeichnis in Wahrheit begründet und durch im Volke lebende Geschichten verbreitet war, so begreift sich, dass diese "Asen", d. h. Stützen und Balken der physischen und sittlichen Weltordnung [Fußnote: Das bleiben sie, auch wenn J. Grimms Erklärung des Namens "ans" aufgegeben wird.] , diese Aufgabe nicht mehr erfüllen konnten. Und darin liegt die richtige, die tiefe Erfassung von "Ragnarökr": dem Rauch, der Verfinsterung der herrschenden Gewalten. Diese Verfinsterung bricht nicht erst am Ende der Dinge in dem grossen letzten Weltkampf plötzlich und von aussen, als eine äussere Not und Überwältigung, über die Götter herein; – die Götterverfinsterung hat vielmehr bereits mit der frühesten Verschuldung der Asen [Fußnote: Siehe über diese unten Buch III, I.] ihren ersten Schatten auf die lichte Walhallawelt geworfen; und fortschreitend wächst diese Verdunkelung mit jeder neuen Schuld und führt die Götter allmählich dem völligen Untergang entgegen; Schritt für Schritt verlieren die Götter Raum an die Riesen; denn mit ihrer Reinheit nimmt auch ihre Kraft ab. Lange Zeit zwar gelingt es noch Odin und seinen Genossen, das fernher drohende Verderben zurückzudämmen; sie fesseln und bannen, wie wir sehen werden, die riesigen Ungeheuer, welche Götter und Menschen, Himmel und Erde mit Vernichtung bedrohen; aber im Kampf mit diesen Feinden erleiden sie selbst schwere Einbussen an Waffen und Kräften; ihr Liebling Baldur, der helle Frühlingsgott, muss – ein mahnend Vorspiel der grossen allgemeinen Götterdämmerung, – zur finstern Hel hinabsteigen. In andern Fällen werden die Götter wenigstens von den schwersten Einbussen bedroht durch leichtsinnig geschlossene Verträge und jene Verluste nur durch listige Ratschläge und Betrug Lokis abgewehrt, welche Treulosigkeit gegen Eid und Wort die lichten Asen immer mehr von ihrer sichern Höhe herabzieht (s. unten die Sagen von Svadilfari, Hamarsheimt, von Skirnisfahrt und von Thiassi und Idun). Immer näher rückt mit der steigenden Verschuldung der Götter der unabwendbare Tag des grossen Weltenbrandes.
Wann bricht dieser herein? Wann ist die Stunde der Götterdämmerung gekommen? Diese bange Frage beschäftigt unablässig den obersten der Götter, Odin, "den grübelnden Asen". Düstere Ahnungen, böse Träume ängstigen ihn und Baldur. Der mannigfaltigen Rat suchende unerschrockene Götterkönig forscht bei allerlei Wesen nach dem, was sie etwa hierüber wissen mögen; selbst zur furchtbaren Behausung Hels und zu den Nornen steigt er, Zukunft forschend, hinab. Mit geringer Ausbeute kehrt er zurück! Erst das Ende der Dinge selbst, das unvermeidbare, gibt die Antwort auf die Frage; – und erst am Ende der hier zu schildernden Geschehnisse, nachdem die Götter, ihre
Weitere Kostenlose Bücher