Walhall. Germanische Goetter- und Heldensagen
vorausgeschickt, wird das Verständnis der ehrwürdigen, obzwar furchtbaren Schicksalspinnerinnen nicht schwierig, wird zumal der in ihrem Wesen und Wirken manchmal waltende Widerspruch voll begreiflich sein.
Mit zweifelhaftem [Fußnote: Allerdings wird einmal eine Norne Nörwis Schwester genannt; Nörwi, der Vater der Nacht, ist der Sohn Lokis, also Bruder der Hel; und so wären die Nornen Schwestern der Hel, ja an jener Stelle wird die älteste Norne vielleicht als Hel selbst gedacht. Schwerer wiegt, dass man die Nornen in der Unterwelt hausend dachte.] Recht hat man die Nornen ähnlich als Vervielfältigungen Hels aufgefasst, wie die Walküren (s. unten) ohne Zweifel Vervielfältigungen Freyas sind. Die drei Nornen sind göttlichen Abstammes, aber älter als die Asen; – wodurch wir abermals in eine Vorzeit versetzt werden, da noch die Riesen als Götter galten und die lichten Geistesgötter noch gar nicht vorhanden, d. h. in dem Bewusstsein des Volks noch gar nicht möglich und nötig waren. Älter als die Götter müssen sie sein, weil sie das Schicksal weben, das ewig ist, während die Götter in der Zeit entstanden. Die Nornen sind bei den Riesen aufgewachsen. Als die Götter mit den Nornen bekannt wurden, war die selige Unschuldszeit der Götter dahin; anders gewendet: erst als die Götter schuldig geworden, als um des Goldes (?) willen Untreue und Mord bei den Göttern vorkam, stellten sich die Nornen bei ihnen (warnend?) ein; im Unschuldsalter der Kindheit fehlt die Empfindung für den Lauf der Zeit, für Schicksal und Notwendigkeit.
Die älteste Norne, Urd, hat hervorragende Bedeutung; ihr Brunnen liegt an jener Wurzel der Weltesche, welche zu den Menschen hinab sich erstreckt (also oberhalb Midgards, was freilich zu Hel, dem Wohnort der Schwestern, übel passt!). An diesem Brunnen versammeln sich (wenigstens nach einer Überlieferung) die Götter, Gericht zu halten; nach andern Angaben muss man aber die Gerichtsstatt, das "Ding" der Asen, wohl nach Asgard verlegen.
Urd ist der Name für "Schicksal" überhaupt; "die Wurd", weiblich gedacht, heisst althochdeutsch "das Schicksal", angelsächsisch hat das Wort die Bedeutung "Zaubergeschick" angenommen; – so heissen die Hexen in "Macbeth" "weird-sisters", Zauber-, d. h. Schicksals-Schwestern. Diese Schicksalsgöttin scheint bei den Südgermanen für sich allein, ohne Beziehung auf ihre beiden Schwestern, eine wichtige Rolle gespielt zu haben.
In Süddeutschland und in den romanischen Ländern sind die drei Nornen zum Teil verschmolzen mit den tria fata (den trois fées [Fußnote: Verdeutscht; "die Feinen"; so singt Gottfried von Strassburg; "Ich wähne, dass ihn Feinen / So wunderbar gesponnen / Und ihn in ihrem Bronnen / Geläutert und gereinet; / Er ist fürwahr gefeinet." – Dagegen "feien" (einen Menschen oder eine Waffe), geht auf Fei, Fee zurück.] ), den "Müttern" der keltisch-römischen Mythologie, welchen zahlreiche Inschriften, Altäre usw. in jenen Gegenden gewidmet waren.
Aber auch ohne solche Beimischung haben sich, insbesondere in den vom bajuvarischen Stamme besiedelten Landen (doch auch bei Alamannen im Elsass, in Schwaben, Baden, Württemberg), Bayern und Deutschösterreich, sehr zahlreiche und heute noch im Volke voll lebendige Sagen und Aberglauben erhalten, welche die "seligen (saligen) Fräulein", die "drei Schwestern", die "drei Fräulein" zum Gegenstande haben.
Sie hausen meist, wie die Nornen, am Brunnen, auch im Innern der Burg-Brunnen [Fußnote: In einem schönen deutschen Märchen ist die in der Burgcisterne hausende Brunnenfee die Freundin der Burgfrau. Da diese während der Geburt eines Töchterleins stirbt, steigt jene auf als Patin des Mädchens und legt diesem einen goldenen Apfel in die Wiege; in Gefahr oder falls sie Rates bedürfe, soll das Kind den Apfel in den tiefen Brunnen werfen, dann taucht sofort die Brunnenfee empor, bringt ihr den Apfel wieder und beschützt sie.] .
Oft ist die eine Schwester schwarz, die andre weiss, die dritte halb schwarz und halb weiss; und diese ist dann die böse, den Menschen feindliche, welche auch wohl die eine blinde Schwester bei Verteilung eines Hortes betrügt. Der Name "Hel" begegnet oft in den Bezeichnungen der Orte, wo die Schwestern hausen; auch wohl "Rach-hel", die rächende, strafende Hel. Statt der Fäden spinnen sie auch wohl Seile, ziehen diese weit übers Tal hoch durch die Luft, festigen sie an Gipfeln und Felsen hoher Berge, tanzen auf diesen Seilen oder hängen
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