Walküre
Terminkalender überprüft.
»Entweder hatte er ein sehr begrenztes oder ein sehr geheimes soziales Leben«, kommentierte Karin Vestergaard. »Sogar wenn man den amtlichen Briefwechsel berücksichtigt, liegen nur sehr wenige Papiere vor. Kein PC, kein Laptop. Dies ist entweder ein nur halb gelebtes Leben oder eine Tarnung. Und nach den Möbeln und der Qualität seines Weinvorrates zu schließen, neigte er nicht gerade zur Askese.«
Fabel betrat das Wohnzimmer und schaute sich um. »Hier hatten Sie sich also versteckt, Major Drescher.« Er drehte sich zu Karin Vestergaard um. »Ich habe mich an die Behörde der Bundesbeauftragten in Berlin gewandt, um seine Akten ausgraben zu lassen. Nichts. Nur eine Erwähnung hier und dort. Es ist ihm ausgezeichnet gelungen, sich zu verstecken, und er dachte bestimmt, dass wir ihn nie finden würden. Aber nun ist er uns direkt in den Schoß gefallen.«
»Er versteckt sich noch immer vor uns, Jan«, widersprach die Dänin vom Arbeitszimmer aus.
Bevor Fabel ins Präsidium zurückkehrte, bat er Holger Brauner, das Penthouse durch sein Team absperren zu lassen und es gründlich zu untersuchen, sobald die Arbeit am Haupttatort beendet war.
Als Karin Vestergaard und er das Wohngebäude verließen und auf seinen BMW zugingen, fiel Fabel auf, dass die Straße bei Tage – sogar im Winterlicht – ganz anders aussah. Er atmete die kalte Luft ein paarmal tief ein. Im Laufe der Jahre hatte Fabel immer wieder erfahren müssen, dass er nach dem Besuch eines Mordtatorts noch wochenlang von einem bestimmten Aspekt oder Bild verfolgt wurde. Diesmal war es, wann immer er die Augen schloss, der leblose Blick von Dreschers Leiche.
»Fühlen Sie sich nicht wohl?«, fragte Karin Vestergaard.
»Doch ... Alles bestens.« Fabel seufzte. »Nur ein weiterer Tag in der Fleischfabrik.«
Im Präsidium holte Fabel Kaffee für sich und seinen Gast, bevor sie in seinem Büro Platz nahmen.
»Wir sollten vor der Vernehmung von Ute Cranz eine Pause machen. Die Sache wird sich lange hinziehen.«
Nach einem Klopfen kam Werner herein. Etwas an seinem Gesicht verriet Fabel, dass die Pause bereits vorbei war.
»Es ist ein heilloses Durcheinander, Jan«, sagte Werner. Er machte sich nicht die Mühe, Karin Vestergaards wegen Englisch zu sprechen.
»Was denn?«
»Die Frau, die wir verhaftet haben, hat das Apartment unter dem Namen Ute Cranz gemietet. Aber sie behauptet, in Wirklichkeit Ute Paulus zu heißen und die Schwester von Margarethe Paulus zu sein ...«
»Stopp.« Fabels Müdigkeit verflüchtigte sich. »Die Frau, die aus der geschlossenen Psychiatrie in Mecklenburg entkommen ist?«
»Genau.«
»Ute Paulus hat also das Gewerbe ihrer Schwester übernommen, männliche Opfer zu kastrieren? Wenn Margarethe Hilfe von außen gehabt hat, würde das jedenfalls erklären, wieso sie unsichtbar bleiben konnte.«
»Tja, und hier wird's sehr kompliziert.« Werner lächelte schief und rieb sich die Stoppeln auf seinem Schädel. »Ich habe Kontakt mit der staatlichen Klinik in Mecklenburg aufgenommen und mit dem Chefpsychiater gesprochen, der für Margarethe Paulus zuständig ist. Er heißt Dr. Köpke. Laut Köpke gibt es keine Ute Paulus. Keine Schwester. Nur Margarethe.«
Werner legte den Ausdruck eines Aktenfotos auf Fabels Schreibtisch. »Das ist Margarethe Paulus ein Jahr vor ihrer Flucht. Ich habe mir die Frau in der Zelle angesehen. Die Haarfarbe ist anders, aber sonst muss sie, wenn sie die Schwester ist, ein Zwilling sein.«
»Verflucht.« Fabel fasste für Karin Vestergaard Werners Ausführungen auf Englisch zusammen. »Was hat Köpke sonst noch gesagt?«, erkundigte er sich dann bei Werner.
»Zwei Dinge. Erstens, er will unbedingt mit dir reden. Außerdem interessiert ihn die Identität des Opfers und die Todesart. Angeblich hat er Informationen, die für uns unentbehrlich sind. Außerdem möchte er mit dem Gerichtspsychiater oder -psychologen sprechen, der die Vernehmung beobachtet – was er uns dringend empfiehlt.«
»Und das zweite?«
»Er empfiehlt uns dringend, dass wir beim Umgang mit Margarethe Paulus maximale Sicherheitsvorkehrungen treffen. Er sagt, sie sei wahrscheinlich das gefährlichste Individuum, dem er je begegnet ist.«
Auf dem Weg zum Vernehmungszimmer nahm Karin Vestergaard einen Anruf auf ihrem Handy entgegen. Nach einem kurzen Austausch auf Dänisch machte sie sich ein paar Notizen. Fabel wartete auf seinen Gast.
»Das war mein Büro in Kopenhagen«, erklärte sie,
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