Walküre
rudimentärer Fötus. Aus irgendeinem Grund – vielleicht weil sie später etwas über das Thema las – gelangte sie zu der Ansicht, dass eine Schwester in ihrem Innern gelebt hatte.«
»Und glaubt sie das immer noch?«
»Wir haben gelernt, mit Margarethe umzugehen, und solange sie richtig medikamentiert und therapiert wurde, konnte sie unter den übrigen Patienten leben. Ich werde noch darauf zurückkommen, warum Medikamente und Behandlung so wichtig waren, aber Sie haben den Grund anscheinend schon aus erster Hand miterlebt. Jedenfalls saß Margarethe manchmal stundenlang am Fenster und sprach mit niemandem außer ihrem eigenen Spiegelbild.«
»Ihrer Schwester«, seufzte Fabel.
»Das haben wir in der Therapie festgestellt, ja. Aber nun kommen wir zum wichtigsten Teil. Der Tumor, der entfernt wurde, war gutartig, doch sehr groß. Wenn man so etwas aus dem Gehirn herausnimmt, ändert sich einiges. Zum Beispiel die chemischen Vorgänge und der intrakranielle Druck. Die Teile des Gehirns, die vorher eingeengt waren, können sich nun ausweiten, besonders wenn der Patient noch ein Kind ist. In Margarethes Fall veränderte sich die Persönlichkeit. Sie war ein normales, empfindsames Kind mit durchschnittlichen Fähigkeiten gewesen. Nach der Operation wurde sie distanziert, unnahbar. Aber ihre akademischen und sportlichen Fähigkeiten verbesserten sich radikal. Und damit kehre ich zu ihren Behauptungen zurück.«
»Und zwar?«
»Sie müssen bedenken, dass unsere Nachkriegserfahrungen hier im Osten von ganz anderer Art als die im Westen waren. Hier haben sich Dinge abgespielt, die Sie sich nicht vorstellen können und mit denen wir immer noch nicht fertig werden. Aber was Margarethe uns mitteilte, wirkte so unglaublich, so fantastisch, dass wir es auf schizoide Paranoia zurückführten. Im Laufe der Zeit bekam ich jedoch Zweifel. Gut, manche Patienten leiden unter einer sehr detaillierten und ausgeklügelten Paranoia, doch diese war einfach zu kompliziert. Ein Teil meiner Arbeit besteht darin, die Widersprüche eines paranoiden Wahns aufzudecken, eine Bruchstelle zu finden und sie mithilfe von Logik aufzuhebeln, damit die Patienten selbst, unter der richtigen Medikation, ihr Fantasiebild als solches erkennen können.«
»Und in Margarethes Geschichte gab es keine Bruchstellen.«
»Überhaupt keine. Ich stellte ein paar Nachforschungen an. Bei der BStU. Dort fand ich heraus, dass viele der von ihr genannten Namen tatsächlich ehemaligen Stasi-Mitarbeitern gehörten. Doch das Verblüffende darin ist, dass sie zu einem Zeitpunkt von ihnen gesprochen hatte, als diese Namen der Behörde nicht bekannt waren, weil die Akten noch verglichen und neu zusammengesetzt wurden.«
»Wenn sie also die Wahrheit gesagt hat...«
»Ändert es trotzdem nichts daran, dass sie schwer gestört ist. Oder daran, dass sie Menschen ermordet hat. Außerdem schwelen tief in ihrem Innern eine gewaltige Wut und ein mächtiger Rachedurst. Und das meiste davon richtete sich gegen Georg Drescher. Wissen Sie, Herr Fabel, Margarethe behauptete nämlich, eine von drei jungen Frauen zu sein, die die Stasi von Major Georg Drescher hatte ausbilden lassen.«
»Als was?«
»Als Mörderinnen. Sie und ihre Gefährtinnen erlernten angeblich eine Vielzahl von Tötungsmethoden, dazu Geheimhaltungs- und Spionagetechniken ... Und sogar, wie sich ihre Opfer am besten verführen ließen. Sie hätten Codenamen erhalten und seien als Walküren bezeichnet worden.«
Als Fabel den Besprechungsraum der Mordkommission betrat, fühlte er sich wie ein Künstler, der unvorbereitet mitten ins Scheinwerferlicht tritt. Während jeder Ermittlung gab es Zeitpunkte wie diesen – eine neue Entwicklung, einen Durchbruch oder einen weiteren Mord –, an dem plötzlich eine elektrische Spannung in der Luft knisterte und das ganze Team ihn erwartungsvoll ansah. Dabei schmerzte ihm der Kopf, ihm war übel, und er mühte sich, die Ungeheuerlichkeit dessen zu verarbeiten, was er gerade von Margarethes Psychiater erfahren hatte.
Anna reichte ihm eine Tasse Kaffee und zwei Aspirin. »Weißt du, welchen Fehler du gemacht hast?«, fragte sie leise.
»Ich bin sicher, dass du mich darüber aufklären wirst.« Fabel warf sich die Tabletten von der Handfläche in den Mund und spülte sie mit dem zu heißen Kaffee hinunter.
»Du hast ein sexistisches Urteil gefällt«, sagte Anna. »Und flipp jetzt bitte nicht aus ... Ich behaupte ja nicht, dass du ein Sexist bist. Was da drinnen
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