Walküre
ein hochgewachsener, dunkelhaariger Mann von ungefähr vierzig lächelnd das Zimmer. Er war schlank, doch breitschultrig. Irgendwann war seine Nase gebrochen worden, und er hatte knapp über dem Auge eine schwache Narbe an der Stirn. Fabel kam er nicht wie ein Rechtsberater vor, es sei denn, Prozesse wurden in Dänemark in einem Boxring entschieden. Der Mann stellte sich als Sven Langstrup vor und setzte sich.
»Sie sind in Frau Bronsteds Unternehmen für die Sicherheit zuständig?«, fragte Fabel.
»Unter anderem, ja«, antwortete Langstrup ohne den dänischen Akzent, den der Hauptkommissar erwartet hatte. Wahrscheinlich war er ebenfalls Deutschdäne. »Infolge von Frau Bronsteds wachsendem politischen Bekanntheitsgrad und ihrem geschäftlichen Erfolg wird ihre Sicherheit manchmal bedroht.«
»Hat es konkrete Bedrohungen gegeben?«, wollte Karin Vestergaard wissen.
»Potenzielle Bedrohungen.«
»Wir sind hier, um mit Ihnen über eine Reihe kürzlicher Todesfälle zu sprechen. All diese Todesfälle stehen mit der NeuHansa Group in Zusammenhang. Es gibt nicht immer eine direkte Beziehung, aber zumindest gewisse Kontakte.«
Gina Bransted runzelte die Stirn. »Natürlich werden wir tun, was wir können, um Ihnen zu helfen.«
»Sie kandidieren für das Amt des Ersten Bürgermeisters, Frau Bransted?«
»Das ist allgemein bekannt. Ich begreife nicht...«
»Können Sie mir ein paar Punkte Ihres politischen Programms darlegen?«, fragte Fabel.
»Ich sehe wirklich nicht, welche Bedeutung das in diesem Zusammenhang haben sollte«, warf Langstrup ein.
»Tun Sie mir den Gefallen«, bat Fabel die Unternehmerin, ohne auf den Rechtsberater zu achten. »Nehmen wir an, ich wäre Wechselwähler.«
»Mein politisches Programm ist fast das gleiche wie das, auf das sich meine Geschäfte stützen. Europa schließt sich zusammen, und sehr bald dürfte eine Föderation entstehen, deren Wirtschaftskraft die der Vereinigten Staaten und sogar die von künftigen Supermächten wie China und Indien in den Schatten stellen wird. Das bedeutet, dass alte Landesgrenzen ihre Bedeutung verlieren und wir die Möglichkeit haben, transnationale Bündnisse aufzubauen. Ich bin keine deutsche, sondern eine Hamburger Politikerin. Was das Geschäftsleben betrifft, so schwebt mir vor, Bündnisse mit anderen nordeuropäischen Städten zu schmieden, um die Art Wohlstand zu schaffen und mit anderen zu teilen, die Landesregierungen allein nicht zustande bringen können.«
»Wie die alte Hanse«, sagte Fabel. »Daher auch der Name NeuHansa Group.«
»Die Hanse ist seit Langem tot und begraben. Hamburg übernahm die Bezeichnung ›Freie und Hansestadt‹ erst, anderthalb Jahrhunderte nachdem die Hanse keine aktive wirtschaftliche und politische Macht mehr war. Aber die Idee lebte weiter. Noch heute ist sie überall um uns herum wirksam. Hätte das hanseatische Ideal nicht in der Hamburger Psyche weiterexistiert, wäre die Speicherstadt nie gebaut worden. Und sie, zusammen mit der HafenCity, ist ebenfalls ein Beispiel für die Unabhängigkeit und den Unternehmergeist Hamburgs.«
Gina Bransted vertrat ihren Standpunkt energisch, doch auch, so schien es Fabel, mit aufrichtiger Leidenschaft. Ihm war klar, dass er einer parteipolitischen Sendung zuhörte, doch schließlich hatte er darum gebeten.
»Vor zehn, fünfzehn Jahren«, fuhr Bransted fort, »als das übrige Europa Bauchnabelschau über seine Zukunft in der Weltwirtschaft betrieb, begriff man in Hamburg, dass China und der Ferne Osten sowie Osteuropa gewaltige Handelsmöglichkeiten zu bieten hatten. Also handelten wir und bauten entsprechende Anlagen, um die Chancen optimal nutzen zu können. Schauen Sie sich an, was nur ein paar Hundert Meter von hier im Sandtorhafen geschieht. Ein umfassender Bereich der HafenCity ist ausschließlich dem Handel mit China gewidmet. Wissen Sie, dass jeder fünfte der 10,8 Millionen Container, die Hamburg in diesem Jahr umschlägt, nach China geht oder von dort kommt? Meine Politik ist einfach. Hamburg braucht Freiheit und Unabhängigkeit, um seine Erfolge auszubauen, um Bündnisse mit anderen Städten in Skandinavien und an der Ostsee zu schließen und um gemeinsam mit ihnen jede andere Handelszone der Welt zu übertreffen.«
»In der Theorie hört sich das gut an«, meinte Fabel. »Aber, wie Sie selbst gesagt haben, letzten Endes ist die Hanse gescheitert.«
»Sie überdauerte in der einen oder anderen Form fast dreihundert Jahre lang, Herr Fabel. Nicht als
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