Walküre
Fabel bereits aus ihren gemeinsamen Studientagen kannte. »Oder vielleicht bloß depressiv. Ich habe dich beobachtet, als ich reinkam. Am liebsten hätte ich dir einen Groschen für deine Gedanken geboten, aber ich weiß nicht, ob sie das Geld wert wären.«
»Ich habe über Frauen nachgedacht«, sagte Fabel.
»Keine Sorge.« Otto grinste immer noch. »Es liegt an deinem Alter. Gar nicht so schlimm ... Eine Midlife-Krise ist mit der Pubertät zu vergleichen, aber ohne die Pickel.«
»Es war Hanna Dorn, über die ich nachgedacht habe.«
Das Grinsen verschwand. »Hanna? Warum fällt sie dir nach all den Jahren wieder ein?«
»Mein Freund, es gibt kaum eine Woche, in der ich nicht an sie denke. Oder wenigstens an das, was ihr zugestoßen ist.«
Sie wurden durch den Barmann unterbrochen, der ein Weizenbier für Otto brachte.
»Jedes Mal, wenn ich einen Sexualmörder vernehme, habe ich Voss vor Augen«, fuhr Fabel fort, nachdem sich der Barmann zurückgezogen hatte und er sich wieder vom Lärm der Musik und der anderen Stimmen umhüllt fühlte. »Jedes Mal, wenn ich den forensischen Bericht über das Opfer einer Vergewaltigung und eines Sexualmordes lese, denke ich an Hanna. Ohne das, was mit ihr geschehen ist, wäre ich nie Polizist geworden und hätte keine Laufbahn in der Mordkommission begonnen.«
»Und wenn ich nicht Heinrich Boll gelesen hätte, wären Bücher nicht zu meinem Lebensinhalt geworden«, erwiderte Otto. »So ist das eben, Jan.«
»Wie läuft das Geschäft?«, fragte Fabel. Otto gehörte die Buchhandlung Jensen in den bekannten Hamburger Arkaden.
»Wir schlagen uns so durch. Letzte Woche hatte ich eine Buchpräsentation für einen Science-Fiction-Autor, der netterweise verkündete, dass sein nächstes Buch nicht in unseren Regalen erscheinen wird. Er gibt es ausschließlich als herunterladbares E-Book und als Hörbuch heraus. Wie er mir versicherte, sind wir endlich in der ›postliterarischen Gesellschaft‹ angekommen, was viele Science-Fiction-Autoren, darunter er selbst, seit Langem vorhergesagt hätten. Also rück zur Seite – vielleicht werde ich selbst bald Polizist.« Er trank einen großen Schluck von seinem Weizenbier. »Aber warum hast du vorgeschlagen, dass wir uns hier treffen? Dies ist ja nicht mehr deine Stammkneipe.«
»Genau deshalb habe ich über Frauen nachgedacht«, sagte Fabel düster. »Erinnerst du dich noch daran, wie ich hierher, nach Pöseldorf, gezogen bin?«
»Als du dich von Renate getrennt hast.«
»Genau. Du weißt ja, Otto, ich verstehe mich gern als freien Geist, der ohne Dogmen und Vorurteile auskommt; als jemanden, der die Welt immer wieder neu aus seiner eigenen Perspektive betrachtet. Das ist totaler Blödsinn. In Wirklichkeit bin ich genauso sehr das Produkt meiner Herkunft wie jeder andere auch ... bloß ein schlichter, provinzieller, berechenbarer norddeutscher Protestant. Nachdem ich Renate geheiratet hatte und Gabi geboren worden war, dachte ich: Das ist mein Leben. So geht es für den Rest meiner Tage weiter. Aber als Renate dann mit Behrens abgehauen ist, brach meine Welt auseinander. Und ich landete in einer Dachwohnung um die Ecke und begann, mein Leben neu aufzubauen. Gerade als ich sesshaft geworden war und alles wieder einordnen konnte, habe ich Susanne kennengelernt, und plötzlich wohne ich in Altona und bin wieder Teil eines Paares.«
»Stimmt.« Otto runzelte mit gespieltem Mitleid die Stirn.
»Die böse schöne Frau hat dir deine Freiheit weggenommen. Wie kannst du nur weiterleben, ohne abends allein vor dem Fernseher zu sitzen und Fertiggerichte zu mampfen? Tut es dir etwa leid, dass du dich mit Susanne eingelassen hast?«
»Nein ... überhaupt nicht. Aber auf jedem Schritt des Weges war es eine Frau, die die Richtung für mich bestimmt hat. Hanna, Gisela Frohm ...«
»Jan, ich begreife nicht, worauf du hinauswillst.«
Fabel lächelte und schlug seinem Freund kurz auf die Schulter. »Guck nicht so besorgt drein, Otto. Das passt nicht zu dir. Ich bin einfach ... Ich weiß nicht ... Es liegt an dem Fall, den ich bearbeite. Dabei geht es in erster Linie um Frauen.«
»O Gott, ja ... Die Sache mit dem ›Engel von St. Pauli‹.«
»Das ist nur ein Teil davon. Außerdem haben wir es mit einer Berufsmörderin zu tun. Wahrscheinlich ist sie hier in Hamburg ansässig.« Fabel bemerkte, wie sein Freund das Gesicht verzog. »Was ist los?«
»Du ...« Otto tat so, als wäre er bestürzt. »Du hast noch nie mit mir über einen Fall
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