Walküre
gibt noch etwas, das ich Ihnen mitteilen muss«, sagte sie behutsam.
»Nur zu, raus damit.«
»Es stimmt nicht ganz, dass ich noch nie in Hamburg gewesen bin. In meinen Semesterferien habe ich hier gearbeitet.«
»Lassen Sie mich raten ... um Ihr Deutsch aufzubessern?«
»Entschuldigung.«
»Für sich genommen spielt es keine Rolle, Karin, aber wir hatten eine Absprache. Wie soll ich denn wissen, was Sie mir sonst noch vorenthalten?«
»Ich bin Ihnen gegenüber immer absolut ehrlich gewesen, Jan. Aber ich war mir nicht sicher, ob Sie mir gegenüber ehrlich sein würden. Deshalb dachte ich wohl, dass ich den Dingen leichter auf den Grund gehen könnte, wenn ich Sie in der Annahme ließe ...«
»Ich hoffe doch, dass sich Ihre Befürchtungen inzwischen zerstreut haben?« Fabel hielt auf dem gepflasterten Halbkreis vor dem Hotel.
»Ja, so ist es. Wir sind auf derselben Seite, Jan. Das versichere ich Ihnen.«
Sechstes Kapitel
1.
Es gab keinen guten Grund, die andere Seite der Stadt aufzusuchen, um etwas zu trinken. Doch Fabel verspürte den Drang, zu der Bar in Pöseldorf zu fahren, die in all den Jahren zuvor seine Stammkneipe gewesen war. Er wusste nicht genau, warum er sie so sehr vermisste, denn in Wirklichkeit hatte er hier nicht viel Zeit verbracht. Aber es war ein Ort gewesen, wo man ihn kannte und wo das Personal und andere Gäste seine Anwesenheit mit einem Nicken oder einem Winken zur Kenntnis nahmen. Die Bar hatte einen Anker in seinem Leben gebildet, einen Bezugspunkt, der ihm geholfen hatte, seine Identität zu spüren.
Fabel saß in einer Ecke des Schankraums, trank sein Jever und dachte über Frauen nach. Ob es ihm gefiel oder nicht, es waren die Frauen in seinem Leben gewesen, die dessen Richtung bestimmt hatten – bis in die winzigsten Kleinigkeiten.
Es war eine Frau gewesen, die ihn dazu gebracht hatte, die Laufbahn als Polizist einzuschlagen.
Er hatte die Carl von Ossietzky Universität in Oldenburg besucht, bevor er in Hamburg Europäische Geschichte studierte. Doch war es ihm nie so recht gelungen, sich an all den von Studenten erwarteten Dummheiten zu beteiligen. Aber als gut aussehender junger Mann konnte er unter den Mädchen wählen. Eine von ihnen war Hanna Dorn gewesen, eine Kommilitonin und die Tochter eines von Fabels Dozenten. Hanna war ein hübsches, unbekümmertes Mädchen, und beide hatten vermutlich gewusst, dass sie nicht auf Dauer zusammen sein würden. Mit der arroganten Sorglosigkeit der Jugend hatten sie einfach nur Spaß miteinander gehabt. Doch wenn Fabel nun an Hannas Gesicht dachte, konzentrierte er sich intensiv auf jede Einzelheit. Es war ein Gesicht, das, hätten sich die Ereignisse anders entwickelt, zusammen mit ihrem Namen in dem verstaubten, unscharfen Archiv seines Gedächtnisses verblichen wäre.
Eines Abends jedoch, als sie einander erst zwei Wochen kannten, war Hanna nach einer Verabredung mit Fabel allein zu ihrer Wohnung zurückgekehrt. Er hatte ein Referat abschließen müssen und sie deshalb nicht begleitet. Hanna traf nie zu Hause ein.
Lutger Voss war ein dreißigjähriger Pfleger im Krankenhaus St. Georg. Das einzig Außergewöhnliche an ihm war seine Psychose. Voss hatte Hanna auf ihrem Heimweg überfallen und verschleppt.
Die Autopsie und die forensischen Untersuchungen hatten später ergeben, dass Voss Hanna gefoltert und wiederholt vergewaltigt hatte. Nach der Entdeckung ihrer Leiche wurde Fabel – als ihr Freund und derjenige, der sie zuletzt lebend gesehen hatte –, stundenlang von der Polizei Hamburg vernommen, bevor man von seiner Unschuld überzeugt war. Fabel selbst jedoch war sich nie sicher gewesen, dass er keine Verantwortung trug. Der Abschluss eines Referats war keine ausreichende Begründung dafür gewesen, Hanna nicht nach Hause zu begleiten. Noch heute, mehr als zwanzig Jahre später, wachte er häufig mitten in der Nacht schuldgeplagt auf, weil er nicht da gewesen war, um sie zu retten.
Drei Tage vor Fabels Studienabschluss war Lutger Voss in eine geschlossene Psychiatrie eingewiesen worden. Am Tag danach hatte Fabel sich bei der Polizei Hamburg beworben.
Der junge Barmann stellte ein neues Glas Jever vor Fabel auf den Tresen, obwohl er keines bestellt hatte. Er hob fragend die Augenbrauen, und der Barmann nickte in Richtung eines langen, schlaksigen, kahl werdenden Mannes, der sich ihnen näherte.
»Du bist spät dran«, sagte Fabel.
»Und du bist pingelig.« Otto Jensen grinste auf die gleiche einfältige Art, die
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