Walküre
Besucher der Reeperbahn und von Prostituierten. Jedes Opfer fand sein Ende auf die gleiche Art: Ihm wurde die Kehle mit einem einzigen seitlichen Stoß durchbohrt. Der Schnitt wurde immer an der rechten Halsseite angesetzt, wonach das Messer die Luftröhre durchtrennte. Der Tod dürfte ziemlich rasch und, da die Luftröhre durchschnitten war, lautlos gewesen sein. Man fand die Leichen in verschiedenen Teilen des Kiez, meist im Auto der Opfer. Kriminaltechnisch ließ sich nachweisen, dass sie vom Beifahrersitz ihres Wagens angegriffen worden waren. Keine forensischen Spuren – Fingerabdrücke, DNA, Fasern – sind je entdeckt worden. Aber vielleicht hat die Mörderin diesmal einen Fehler begangen. Wir haben ein einzelnes blondes Haar am Tatort gefunden. Wenn es wirklich der Mörderin gehört, wäre das ein weiterer Unterschied gegenüber den vorherigen Überfällen. Außerdem ließ die als Engel bezeichnete Mörderin ihre Opfer nie so lange am Leben, dass sie uns mitteilen konnten, wer die Tat begangen hatte. Der letzte Tote der ersten Serie, ein neunundvierzig Jahre alter Schiffsingenieur, wurde im November 1999 aufgefunden. Danach ereignete sich nichts mehr.«
»Bis jetzt...«, sagte Werner.
»Woher kommt der Name ›der Engel‹?«, fragte Dirk Hechtner.
»Es gab damals ein ungeheures Medieninteresse an dem Fall, wie bestimmt noch jeder von euch weiß«, antwortete Fabel. »Gestern Abend bin ich vor der Davidwache von Sylvie Achtenhagen und ihrem Kamerateam empfangen worden. Frau Achtenhagen ist inzwischen durch ihre Nachrichtenshow auf HanSat ihrerseits zu einem Star geworden. Aber vor zehn Jahren hatte noch niemand von ihr gehört. Sie war eine junge und sehr ehrgeizige Reporterin bei einem der öffentlichen Sender. Dank ihrer Berichterstattung über die Morde konnte sie sich ein Renommee aufbauen und durfte schließlich eine einstündige Sondersendung über den Fall leiten.
Ich muss zugeben, dass sie die Sache sehr geschickt gehandhabt hat, auch wenn sie mit ihren Schlussfolgerungen erheblich danebenlag. Im Wesentlichen verlieh Achtenhagen dem Ganzen einen feministischen Dreh. Ihre Interpretation lautete, dass fast genau hundert Jahre nach Jack the Ripper ein weiblicher Ripper genau das Gleiche in Hamburg tat. Wir alle kennen die Redensart, dass Hamburg der östlichste Vorort von London ist. Achtenhagen übertrieb die Ähnlichkeiten zwischen den beiden Städten. Beide Mordserien hatten mit einem scharfen chirurgischen Messer, der Verstümmelung von Leichen und der Mitnahme von Trophäen zu tun. Bei Jack the Ripper waren diese Trophäen manchmal Genitalien, beim Engel dagegen ausschließlich Genitalien. Beide Mordserien fanden in Rotlichtvierteln statt: in London in Whitechapel, in Hamburg auf dem Kiez. Und bei beiden Mordserien ging es um Prostituierte und ihre Kunden.«
»War ... ist der Engel zweifelsfrei eine Prostituierte?«, fragte Werner.
»Offenbar. Jedenfalls gibt sie sich als Prostituierte aus. Wie auch immer, Sylvie Achtenhagen verwies darauf, dass hier die übliche Vorstellung umgekehrt wurde: Während Jack the Ripper die uralte Unterdrückung und Misshandlung von Frauen durch Männer repräsentiere, verkörpere der Engel ihre Befreiung. Völliger Blödsinn natürlich, aber er beflügelte die Fantasie, sodass der Engel zu einem feministischen Symbol wurde. Achtenhagen schaffte es anzudeuten – und zwar sehr subtil –, dass im Grunde die Opfer die Täter waren.«
»Und in Sylvie Achtenhagens Dokumentarfilm wurde die Mörderin zum ersten Mal als ›Engel‹ bezeichnet?«, wollte Anna wissen.
»Sie hatte geplant, sich mit ihrer einstündigen Sondersendung einen Namen zu machen. Das ist ihr gelungen. Aber sie hat auch einen Namen für die Täterin geschaffen. Die Bezeichnung ›Engel von St. Pauli‹ stieß in der Öffentlichkeit auf große Resonanz und wurde allgemein übernommen.« Fabel warf den Filzmarker auf den Konferenztisch. »Was mir an Achtenhagens Aktion missfiel, war der Umstand, dass sie den Gedanken an einen rächenden weiblichen Engel heraufbeschwor, der durch die Straßen von Hamburg schleicht und nach männlichen Opfern Ausschau hält. Das mag zutreffen, allerdings haben wir nur eine einzige Zeugenaussage darüber, dass eines der Opfer kurz vor seinem ermittelten Todeszeitpunkt in Gesellschaft einer mehr oder weniger jungen blonden Prostituierten beobachtet wurde. Sonst könnte genauso gut ein Mann die Morde begangen haben. Die Präzision und die Methode, wie die Kehle
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