Walküre
sie.
Wengert zog den Stuhl unter dem Tisch des Beratungszimmers hervor und forderte Sylvie auf, sich zu setzen. Sein langes, graues Gesicht nahm einen verschwörerischen Ausdruck an.
»Wissen Sie, Frau Achtenhagen, es ist ein erstaunlicher Zufall ... Sie sind in dieser Woche schon die zweite Person, die sich nach dem Namen erkundigt.«
»Tatsächlich? Woher stammt die erste Nachfrage? Von einem anderen Sender oder einer Zeitung?«
»Weder noch.« Er wirkte einen Moment lang unsicher. »Ach, es schadet wohl nicht, wenn ich es Ihnen sage. Es war keine Medienanfrage, sondern ein Ersuchen der Polizei. Der Polizei Hamburg.«
»So, so«, sagte Sylvie. »Hat man erwähnt, woher das Interesse an Drescher rührt?«
»Nein. Ich konnte nicht behilflich sein. Und leider kann ich auch Ihnen nicht helfen. Wir wissen aus anderen Unterlagen, dass er existiert hat, aber von Major Georg Drescher gibt es keine auffindbare persönliche Akte. Auch können wir kein anderes nennenswertes Dokument entdecken, in dem von ihm oder seiner Tätigkeit die Rede ist. Er wird nur in unbedeutenden Akten erwähnt, und auch dort, manchmal buchstäblich, lediglich in einer Fußnote.«
»Ist das nicht ... na ja ... seltsam?«
»Durchaus nicht, Frau Achtenhagen. Die Stasi hatte Unmengen von Akten. Millionen. Jeder Bericht von Inoffiziellen Mitarbeitern wurde niedergeschrieben, in ein Verzeichnis aufgenommen und abgeheftet. Nehmen wir die persönlichen Akten von Individuen – es gibt sechs Millionen davon. Bei was für einer Gesamtbevölkerung? Sechzehn Millionen? Das bedeutet, dass sich hier viel Belangloses verbirgt.
Aber die wichtigen Sachen, die großen Geheimnisse? – Eine Menge davon wurde geschreddert oder entfernt. Gegen Ende neunundachtzig, Anfang neunzig sah die Stasi die Zeichen an der Wand – oder an der Mauer, wenn Sie mir den kleinen Scherz verzeihen –, und außerdem warteten Tausende von Bürgerrechtlern darauf, das Gebäude einzureißen und die Akten in die Hände zu bekommen. Das geschah am 15. Januar. Ich vermute, dass in der Stasi-Zentrale in den Tagen und Stunden, bevor die Protestler eindrangen, Chaos geherrscht hat. Dann wurde die Vernichtung der Akten eingestellt, aber einen großen Teil des Belastungsmaterials hatte man bereits in den Reißwolf geworfen. Wir haben fast siebzehntausend Säcke mit annähernd 50 Millionen geschredderten Seiten geborgen. Und wir versuchen immer noch, sie zusammenzusetzen.
Aber das ist noch nicht alles. Unter den Bürgerrechtlern, die in die Zentrale eindrangen, waren Mitglieder der amerikanischen CIA, die bei einigen der vertraulichsten Informationen zulangten. Ihnen ging es darum, Verzeichnisse von Agenten, die im Westen arbeiteten, in die Finger zu bekommen. Außerdem befanden sich unter den Protestlern wahrscheinlich etliche Stasi-Agenten und -Spitzel, die sich in den Besitz ihrer eigenen Akten bringen wollten, bevor andere es taten.«
»Und Sie glauben, dass das auch mit Dreschers Akten passiert ist?«, fragte Sylvie. »Dass es ihm gelang, seine Existenz aus den Unterlagen zu tilgen?«
»Vielleicht, vielleicht aber auch nicht. Wir versuchen immer noch, die geschredderten oder mit der Hand zerrissenen Unterlagen erneut zusammenzufügen. Erst im letzten Jahr haben wir eine Software entwickelt, mit der man die Seiten digital zusammensetzen und so den ganzen Vorgang beschleunigen kann. Aber auch damit werden wir bis 2013 brauchen. Sie können jedoch sicher sein, dass sich vorher schon ein paar üble Überraschungen ergeben werden. Viele frühere Stasi-Agenten und -Spitzel werden nicht sehr ruhig schlafen, davon bin ich überzeugt. Vielleicht sind Dreschers Akten hier bei uns und warten darauf, zusammengefügt zu werden.«
»Falls sie tatsächlich hier sind ...« Sylvie stieß einen langen Seufzer der Enttäuschung aus.
»Da ist noch etwas anderes.« Wengert beugte sich vor und senkte die Stimme. »Sie wissen, dass die BStU vom Bundesarchiv übernommen werden soll? Wegen des Berichts der Untersuchungskommission von Hans Hugo Klein. Er hat nachgewiesen, in welchem Maße die BStU von ehemaligen Stasi-Angehörigen infiltriert worden ist. Von Leuten, die vielleicht hier arbeiten, um die Akten, die wir schützen und wiederherstellen sollen, verschwinden zu lassen oder zu vernichten.«
»Drescher könnte also einen Freund in der Behörde haben?«
Wengert zuckte die Achseln. »Wer weiß? Tut mir leid, dass ich Ihnen nicht mehr helfen kann.«
»Was ist mit den anderen Namen, die ich
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