Walküre
ihren Eifer zu unterdrücken. »Das ist es ja. An dem Abschiedsbrief ist etwas ...« Sie suchte nach dem richtigen Wort. »Mehrdeutiges.«
»Haben Sie ihn bei sich?«
Sie reichte ihm ein Blatt Papier. »Das ist eine Fotokopie. Der Brief wurde ein paar Meter neben seiner Leiche gefunden. Kein Blut darauf. Die einzigen Fingerabdrücke waren die des Verstorbenen.«
Fabel las den Brief laut vor. »›Liebe Marianne ...«‹ Er hob eine Augenbraue. »Seine Frau.«
»›Liebe Marianne, es tut mir leid, dies tun zu müssen, und ich weiß, dass Du zurzeit sehr wütend auf mich bist. Aber Du wirst verstehen, dass es für mich keinen anderen Ausweg gibt. Es ist schlimm, Dich und die Kinder verlassen zu müssen, doch es ist die beste Lösung. Ich habe sichergestellt, dass Ihr alle versorgt sein werdet, und ich möchte, dass Ihr wegen der einzigen Entscheidung, die mir möglich war, nicht schlecht von mir denkt. Dies ist meine Entscheidung, und Du sollst wissen, dass niemand anders hierbei eine Rolle gespielt hat. Es ist schade, dass ich nicht jeden Tag da sein werde, um die Kinder heranwachsen zu sehen, aber ich konnte einfach nicht so weitermachen wie bisher. Ich weiß, dass Du mich verstehen wirst. Auf Wiedersehen ... Peter.«‹ Fabel gab Iris Schmale die Kopie zurück. »Haben Sie mit der Frau gesprochen?«
»Selbstverständlich. Ich weiß, dass es Hinterbliebenen oft schwerfällt, den Gedanken an einen Selbstmord zu akzeptieren, aber Marianne Claasens weigert sich einfach zu glauben, dass er so etwas getan haben könnte. Und sie kommt mir nicht vor wie jemand, der durch den Schock überwältigt worden ist. Sie verschließt sich nicht der Realität, sondern sie ist wirklich überzeugt, dass ihr Mann sich nicht umgebracht hat. Und der Brief...«
»Was ist damit?«
»Na ja, er könnte alles Mögliche bedeuten. Ich habe versucht, ihn in einen anderen Zusammenhang zu stellen, also ihn nicht am Schauplatz eines Selbstmords zu sehen. Und dann klingt der Text eher nach jemandem, der sich nicht tötet, sondern der seine Frau verlässt... ›Du musst wissen, dass niemand anders hierbei eine Rolle gespielt hat ...‹ Wie hätte jemand bei seinem Selbstmord eine Rolle spielen können? Für mich hört es sich eher so an, als habe er mit einer anderen Frau davonlaufen und ihren Namen nicht preisgeben wollen.«
Fabel dachte über die Worte seiner jungen Kollegin nach, und sie beobachtete ihn aufmerksam wie eine Angeklagte, die auf das Urteil des Richters wartet.
»Das war eine gute Überlegung.« Er lächelte. »Ich meine, den Brief in einem neutralen Rahmen zu betrachten. Aber wenn es kein Selbstmord war, dann muss es Mord gewesen sein. Und falls er wirklich plante, seine Frau zu verlassen, dann ist sie die Hauptverdächtige. Haben Sie Frau Claasens unter die Lupe genommen?«
»Ja, Herr Hauptkommissar. Sie war weit von Claasens' Büro entfernt – wofür es ein Dutzend Zeugen gibt. Sie hat an einer Feier im Krankenhaus St. Georg teilgenommen, wo sie als Fachärztin arbeitet. Als Onkologin.«
»Und Claasens?«
»Wie gesagt, er war Exportmakler und hatte eine eigene Firma, die Importe und Exporte für in Hamburg ansässige Großunternehmen abwickelt. Er war auf den Fernen Osten spezialisiert.«
»Irgendwelche verdächtigen Verbindungen?«
»Nicht beruflich. Anscheinend war er einer der geachtetsten Geschäftsmänner in Hamburg. Außerdem hatte er politische Ambitionen und dachte daran, für die Bürgerschaft zu kandidieren. Auch das macht mich stutzig: Selbstmörder schmieden gewöhnlich keine Zukunftspläne.«
»Sie sagten, beruflich habe es nichts Verdächtiges gegeben. Und privat?«
»Nach meinen Informationen war Claasens ein ziemlicher Frauenheld. Noch ein Grund, warum ich den Brief anders interpretieren würde.«
»Darf ich ihn bitte noch einmal sehen.« Fabel las den Brief erneut durch. »Sie könnten recht haben. Ich werde ein Team abordnen, das den Fall mit Ihnen bearbeiten kann.«
Fabel verließ das Kommissariat am Klingberg, und Iris Schmale strahlte, als hätte sie im Lotto gewonnen. Kein Zweifel, sie war eine aufgeweckte Polizistin, aber auf den ersten Blick gab es keinen Hinweis darauf, dass Classens' Tod mehr war, als er zu sein schien: der Fall eines ausgebrannten Unternehmers, der sich von seinem Bürogebäude in die Tiefe stürzt.
Der Winterhimmel hing finster über dem Kontorhausviertel, und auf dem Rückweg zu seinem Auto verspürte Fabel das gleiche quälende Gefühl wie Iris Schmale. Hier
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