Walkueren
Landespolizeichefin Elín. »Der Herr Polizeidirektor ist sich hoffentlich darüber im Klaren, dass nächtliche Gewaltverbrechen in der Hauptstadt an Zahl und Intensität zugenommen haben, stärker als an vielen anderen Orten auf der Welt, außer in Kriegsgebieten.«
»Das Bemerkenswerte an den Zuständen in der Reykjavíker Innenstadt ist«, erwiderte Lúðvík, »dass sie noch viel schlimmer sein könnten. Wir haben an den Wochenenden nur siebzehn Polizeibeamte in der Nachtschicht, die Streife fahren und sich um viel mehr Menschen kümmern müssen als bei irgendeinem der vielen Open-Air-Festivals auf dem Land. Im Hauptstadtgebiet leben über 150000 Menschen mit nahezu unbegrenztem Zugang zu Alkohol und Drogen.«
Elín lächelte. Der »Dressman« ging in die Verteidigung. Jetzt konnte das Meeting beginnen.
Es war Elíns Idee gewesen, den Reykjavíker Polizeidirektor »Dressman« zu nennen, denn im Gegensatz zu vielen anderen hochgestellten Beamten scherte er sich nur wenig um seine Kleidung.
Aber Lúðvík war noch nicht fertig: »Es ist mir seit langem ein Trost, dass wir trotz aller Vergehen immer noch eines der wenigen Länder der Welt sind, in dem eine so offene Demokratie herrscht, dass sich die Allgemeinheit den von ihr gewählten Repräsentanten nähern kann, ohne vorher mit einem Metalldetektor abgesucht zu werden. Ich weiß nicht, ob sich die Zeiten ändern und die Menschen mit ihnen oder umgekehrt. Bis jetzt hat uns die Polizei genügt. Warum braucht der Justizminister Leibwächter – während wir zur gleichen Zeit bei der Polizei kein zusätzliches Personal genehmigt bekommen?«
Daniel beschloss, einen leichteren Ton anzuschlagen, damit die beiden Polizeivorsteher nicht sofort aneinandergerieten.
»Es heißt zwar immer, die Polizei braucht mehr Personal«, sagte er. »Aber möchten wir das wirklich?«
Da niemand antwortete, als der Justizminister in die Runde blickte, fuhr er fort: »Nein, das möchten wir natürlich nicht. Wir sind eine Demokratie und möchten nicht in einem Polizeistaat leben.«
»Entschuldige, dass ich so schwer von Begriff bin«, entgegnete Lúðvík, »aber meint der Herr Minister, die Polizei würde die Demokratie bedrohen?«
Der Justizminister schaute den Polizeidirektor erschöpft an. Dieser erwiderte seinen Blick. Beide dachten genau dasselbe von ihrem jeweiligen Gegenüber:
Wie war dieser Mann nur in dieses Amt gekommen?
Wer nichts tut, macht auch keine Fehler. Das wissen alle Politiker und die meisten Beamten.
Obwohl Polizeidirektor Lúðvík Ásmundsson Beamter war, hatte er diese Grundregel eines jeden Verwaltungsapparats offenbar vergessen.
Als die Besprechung zwischen dem Justizminister, der Landespolizeichefin und dem Reykjavíker Polizeidirektor beendet war, erkannte Lúðvík, dass es ein Fehler gewesen war, das Memo vorzulegen. An und für sich stand darin nichts, was bei ihren Meetings nicht schon lang und breit besprochen worden war, aber die Vorgehensweise, eine schriftliche Zusammenfassung vorzulegen, verlangte nach Reaktionen. Und selbst wenn diese Reaktionen in der Luft gelegen haben mochten, war es ein Fehler von ihm gewesen, sie zu provozieren. Auf dem Memo stand Folgendes:
Es ist lediglich eine Frage der Zeit, wann das organisierte Verbrechen, wie wir es aus dem Ausland kennen, auch in Island an Boden gewinnen wird; dafür gibt es genügend Beispiele in Ost- und Südeuropa, auf dem Balkan und in den Vereinigten Staaten von Amerika. Kennzeichen dieser Machenschaften sind Prostitution, Drogenschmuggel und -handel, Geldwäsche, Wirtschaftskriminalität sowie bewaffnete Gewalt und brutale Verbrechen gegen Leib und Leben.
Die herkömmlichen Arbeitsmethoden der Polizei sind ineffektiv und unzulänglich für die Aufklärung und den Nachweis solcher Delikte. Die Polizei kann die Sicherheit der Bürger, die von kriminellen Vereinigungen bedroht werden, sowie von etwaigen Zeugen nicht länger gewährleisten. Wir brauchen neue Instrumente und neue Arbeitsmethoden zur Bekämpfung neuer Gefahren, denen unsere Gesellschaft jetzt und in Zukunft ausgesetzt ist bzw. sein wird.
Die notwendigen Instrumente sind politische Entscheidungen und eine Gesetzgebung, die neue Arbeitsmethoden ermöglicht. Seit Jahren zögern die Politiker eine Stellungnahme zur Erweiterung der polizeilichen Befugnisse für Telefonüberwachungen hinaus. Seit Jahren fordert die Polizei ein Zeugenschutzgesetz. Seit Jahren wartet die Polizei auf eine Genehmigung für
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