Wallander 01 - Mörder ohne Gesicht
berittener Polizist. Wir sollen uns morgen wieder melden. Aber sie fliegt nach Hause, das steht fest. Mit der anderen Tochter war es schwieriger, obwohl sie in Schweden lebt. Sie ist siebenundvierzig Jahre alt und als Kaltmamsell im Rubin in Göteborg angestellt. Sie trainiert eine Handballmannschaft, die zur Zeit in Skien, in Norwegen ist. Aber sie haben versprochen, sie über das, was passiert |42| ist, zu benachrichtigen. Außerdem habe ich eine Liste mit Lövgrens übrigen Verwandten in der Zentrale abgegeben. Es sind ziemlich viele. Die meisten wohnen in Schonen. Vielleicht melden sich morgen noch mehr, nachdem sie die Zeitung gelesen haben.«
»Das klingt gut«, sagte Kurt Wallander. »Kannst du mich morgen früh um sechs im Krankenhaus ablösen? Wenn sie bis dahin nicht stirbt.«
»Ich komme. Aber meinst du eigentlich, es ist eine gute Idee, daß ausgerechnet du da sitzt?«
»Warum nicht?«
»Du mußt schließlich die Ermittlungen leiten. Und ein bißchen Schlaf wäre da sicherlich nicht schlecht.«
»Eine Nacht halte ich schon durch«, sagte Kurt Wallander und beendete das Gespräch.
Er saß regungslos da und starrte vor sich hin.
Können wir das überhaupt schaffen? dachte er.
Oder haben die schon einen viel zu großen Vorsprung?
Er zog seinen Mantel an, knipste die Schreibtischlampe aus und verließ das Zimmer. Der Flur, der zur Zentrale führte, war verlassen. Er steckte den Kopf in den Glaskasten, in dem die diensthabende Telefonistin saß und in einer Zeitung blätterte. Er sah, daß es ein Rennprogramm war. Setzen hier neuerdings alle auf Pferde? dachte er.
»Martinsson soll hier einige Papiere für mich hinterlegt haben«, sagte er.
Die Telefonistin, die Ebba hieß und seit über dreißig Jahren bei der Polizei war, nickte freundlich und zeigte auf den Tisch.
»Wir haben ein Mädchen vom Jugendarbeitsamt hier. Süß und lieb und total unfähig. Hat sie vielleicht vergessen, dir die Sachen zu geben?«
Wallander nickte.
»Ich gehe jetzt«, sagte er. »Ich bin wohl in ein paar Stunden zu Hause. Falls etwas passiert, kannst du bei meinem Vater anrufen.«
|43| »Du denkst an die arme Frau, die im Krankenhaus liegt«, meinte Ebba.
Kurt Wallander nickte.
»Schreckliche Geschichte.«
»Ja«, antwortete Kurt Wallander. »Ich frage mich manchmal, was eigentlich momentan mit diesem Land geschieht.«
Als er durch die Glastüren des Polizeipräsidiums trat, schlug ihm der Wind entgegen. Er war kalt und beißend, so daß Wallander sich duckte, als er zum Parkplatz eilte. Hoffentlich schneit es nicht, dachte er.
Nicht bevor wir die gefaßt haben, die in Lenarp zu Besuch waren.
Er stieg ins Auto und suchte lange zwischen den Kassetten, die er im Handschuhfach aufbewahrte. Ohne sich richtig entscheiden zu können, schob er Verdis ›Requiem‹ in den Kassettenrecorder. Er hatte teure Boxen im Auto einbauen lassen, und die mächtigen Töne schlugen an seine Ohren. Er bog nach rechts ab und fuhr die Dragonstraße hinunter, in Richtung östliche Umgehungsstraße. Einzelne Blätter wirbelten über die Straße, und ein Fahrradfahrer kämpfte gegen den Wind an. Die Uhr im Auto zeigte auf sechs. Der Hunger packte ihn wieder, er überquerte die Hauptstraße und hielt bei »OKs Cafeteria« an. Meine Eßgewohnheiten ändere ich ab morgen, dachte er. Komme ich auch nur eine Minute nach sieben bei Vater an, muß ich mir erst wieder die Litanei davon anhören, daß ich ihn vergessen habe.
Er aß einen Hamburger mit Pommes frites.
Er aß so schnell, daß er Durchfall bekam.
Als er auf der Toilette saß, stellte er fest, daß er mal wieder die Unterhose wechseln könnte.
Plötzlich spürte er, wie müde er war.
Erst als es an der Tür klopfte, stand er auf.
Er tankte, fuhr durch Sandskogen nach Osten und bog auf die Straße nach Kåseberga ein. Sein Vater wohnte in einem kleinen Haus, das zwischen dem Meer und Löderup im Grünen lag.
|44| Es war vier Minuten vor sieben, als er auf den kiesbedeckten Hof vor dem Haus einbog.
Der kiesbedeckte Hof war die Ursache für den letzten und längsten Streit zwischen ihm und seinem Vater gewesen. Früher hatte der Hof Kopfsteinpflaster gehabt, das genauso alt war wie das Haus, in dem sein Vater wohnte. Eines Tages hatte er sich plötzlich überlegt, den ganzen Hof mit Kies abzudecken. Als Kurt Wallander protestiert hatte, war sein Vater rasend geworden. »Ich brauche keinen Vormund!« hatte er gebrüllt.
»Warum willst du das schöne Kopfsteinpflaster zerstören?«
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