Wallander 01 - Mörder ohne Gesicht
Auffanglager finden ließen. Vielleicht würde sich dann einmal was an dieser gleichgültigen und nachlässigen Haltung gegenüber der Tatsache ändern, daß wer auch immer, aus welchen Motiven auch immer, ohne Probleme über die schwedische Grenze kommen kann.
So etwas würde er natürlich niemals Rydberg gegenüber äußern. Das war eine Ansicht, die er schön für sich zu behalten gedachte.
Er kämpfte sich gegen den Wind zu seinem Auto durch.
Obwohl er müde war, verspürte er keine Lust, nach Hause zu fahren.
Jeden Abend rief sich die Einsamkeit aufs neue in Erinnerung.
Er schaltete die Zündung ein und wechselte die Kassette. Die Klänge der Ouvertüre aus ›Fidelio‹ füllten das Wageninnere.
Es hatte ihn aus heiterem Himmel getroffen, als ihn seine Frau so plötzlich verließ. Aber ganz tief in seinem Innern mußte er sich eingestehen, daß er die Gefahr schon viel früher hätte erkennen müssen – auch wenn es ihm schwerfiel, das zu akzeptieren. Daß er in einer Ehe lebte, die dabei war, an ihrem tristen Alltag zu zerbrechen. Sie hatten sehr jung geheiratet und viel zu spät eingesehen, daß sie dabei waren, sich auseinanderzuleben. Vielleicht war es sogar so, daß Linda am deutlichsten von ihnen allen auf die Leere reagiert hatte, die sie alle umgab?
Als Mona ihm an jenem Abend im Oktober sagte, daß sie sich scheiden lassen wolle, hatte er gedacht, daß er darauf eigentlich schon lange gewartet habe. Aber weil dieser Gedanke eine solche Bedrohung in sich barg, verdrängte er ihn immer wieder und schob alles darauf, daß sie soviel zu tun hatten. Zu spät begriff er, daß sie ihren Aufbruch bis ins kleinste |57| Detail vorbereitet hatte. An einem Freitagabend eröffnete sie ihm, daß sie die Scheidung wolle, und schon am darauffolgenden Sonntag verließ sie ihn und zog in eine Wohnung in Malmö ein, die sie zuvor angemietet hatte. Das Gefühl, verlassen zu werden, hatte ihn gleichzeitig mit Scham und rasender Wut erfüllt. In einem ohnmächtigen Inferno – nicht mehr Herr seiner Sinne – hatte er sie ins Gesicht geschlagen.
Danach hatte es nur noch Schweigen gegeben. An den Tagen, an denen er nicht zu Hause war, holte sie einen Teil ihrer Sachen ab. Das meiste ließ sie allerdings da, und gerade das hatte ihn sehr verletzt, daß sie bereit schien, ihre gesamte Vergangenheit gegen ein Dasein einzutauschen, in dem er nicht einmal mehr als Erinnerung eine Rolle spielen würde.
Er hatte sie angerufen. Spät am Abend waren sich ihre Stimmen begegnet. Besinnungslos vor Eifersucht versuchte er herauszufinden, ob sie ihn wegen eines anderen Mannes verlassen hatte.
»Für ein anderes Leben«, hatte sie geantwortet. »Ein anderes Leben, ehe es zu spät ist.«
Er hatte sie angefleht. Er hatte versucht, sich den Anschein zu geben, völlig uninteressiert zu sein. Er bat um Verzeihung für all die nicht gezeigte Aufmerksamkeit. Aber was immer er auch sagte, nichts konnte ihren Entschluß ins Wanken bringen.
Zwei Tage vor Heiligabend waren die Scheidungsunterlagen mit der Post gekommen.
Nachdem er den Umschlag geöffnet und eingesehen hatte, daß es endgültig vorbei war, war etwas in ihm zerbrochen. Vom starken Wunsch getrieben, allem zu entfliehen, hatte er sich über die Feiertage krank schreiben lassen und sich auf eine ziellose Reise begeben, die ihn schließlich nach Dänemark führte. An der Nordseite Seelands hatte ihn ein plötzlich aufkommendes Unwetter von Schweden abgeschnitten, und er verbrachte Weihnachten in einem schlechtbeheizten Zimmer in einer Pension bei Gillesleje. Dort hatte er Mona lange Briefe geschrieben, die er dann später wieder zerriß und ins Meer |58| streute, als eine Art symbolische Geste dafür, daß er trotz allem begonnen hatte zu akzeptieren, was geschehen war. Zwei Tage vor Silvester war er nach Ystad zurückgekehrt und hatte seinen Dienst wieder angetreten. Die Silvesternacht verbrachte er dann damit, einen Fall in Svarte zu bearbeiten, bei dem ein Mann seine Frau schwer mißhandelt hatte, was ihn zu der erschreckenden Einsicht führte, daß es sich genausogut um ihn selbst hätte handeln können, der Mona geschlagen hatte …
Die Musik aus ›Fidelio‹ endete mit einem schneidenden Geräusch.
Das Band hatte sich verhakt. Das Radio wurde automatisch zugeschaltet, und er hörte die Zusammenfassung eines Eishockeyspiels.
Er bog vom Parkplatz aus in die Straße ein und entschied, nach Hause in die Mariastraße zu fahren.
Trotzdem fuhr er in die
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