Wallander 01 - Mörder ohne Gesicht
plötzlich ein junges blondes Mädchen. Für einen kurzen Moment erinnerte sie ihn an Linda. Sie hatte dasselbe Haar, denselben mageren Körper und dieselben ruckartigen Bewegungen, wenn sie ging. Er betrachtete sie aufmerksam.
Das Mädchen begann, an einer zur Tenne führenden Leiter zu zerren.
Als sie ihn bemerkte, ließ sie die Leiter los und putzte sich die Hände an ihrer grauen Reithose ab.
»Hallo«, sagte Wallander. »Ich suche Sten Widen. Bin ich hier richtig?«
»Sind Sie Polizist?« fragte das Mädchen.
»Ja«, antwortete Kurt Wallander verwundert. »Wie kommen Sie darauf?«
»Das hört man an der Stimme«, sagte das Mädchen und begann wieder an der Leiter zu zerren, die sich offenbar verhakt hatte.
»Ist er zu Hause?« fragte Kurt Wallander.
»Helfen Sie mir mal mit der Leiter«, sagte das Mädchen nur.
Als er sah, daß eine der Sprossen in der Bretterverkleidung der Stallwand festsaß, packte er die Leiter und drehte sie, bis die Sprosse sich löste.
»Danke«, sagte das Mädchen. »Sten sitzt bestimmt im Büro.«
Sie zeigte auf ein rotes Ziegelgebäude, das ein Stück vom Stall entfernt lag.
»Arbeiten Sie hier?« fragte Kurt Wallander.
»Ja«, erwiderte das Mädchen und kletterte schnell die Leiter hoch. »Verschwinden Sie jetzt da unten!«
Mit überraschend starken Armen begann sie, Heuballen durch die Bodenluke zu werfen. Kurt Wallander ging auf das rote Haus zu. Gerade als er an die massive Tür klopfen wollte, kam ein Mann um die Ecke des Hauses.
Es war zehn Jahre her, daß er Sten Widen zum letzten Mal |75| gesehen hatte. Trotzdem schien er sich überhaupt nicht verändert zu haben. Dasselbe struppige Haar, dasselbe magere Gesicht und dasselbe rote Ekzem an der Unterlippe.
»Das ist ja eine Überraschung«, sagte der Mann mit einem nervösen Lachen. »Ich dachte, der Hufschmied wäre gekommen. Und dann bist du es! Lange her, daß wir uns gesehen haben.«
»Elf Jahre«, antwortete Kurt Wallander. »Im Sommer 1979.«
»Der Sommer, in dem alle Träume sich in Luft auflösten. Willst du Kaffee?«
Sie gingen in das rote Ziegelgebäude. Von den Wänden schlug Kurt Wallander ein Ölgeruch entgegen. Im Dunkeln stand ein rostiger Mähdrescher. Sten Widen öffnete eine weitere Tür, eine Katze sprang zur Seite, und Kurt Wallander betrat einen Raum, der eine Kombination aus Büro und Wohnung zu sein schien. An der einen Wand stand ein ungemachtes Bett. Außerdem gab es einen Fernseher und ein Videogerät, und auf einem Tisch stand eine Mikrowelle. In einem alten Sessel türmte sich ein Haufen Kleider. Der übrige Platz im Raum wurde von einem großen Schreibtisch eingenommen. Sten Widen goß Kaffee aus einer Thermoskanne ein, die neben dem Faxgerät in einer der breiten Fensternischen stand.
Kurt Wallander fielen Sten Widens enttäuschte Opernträume ein. Wie sie sich Ende der siebziger Jahre eine Zukunft ausgemalt hatten, zu der es keiner der beiden jemals bringen sollte. Kurt Wallanders Aufgabe wäre die des Impresarios gewesen, und Sten Widens Tenor sollte von den Opernbühnen der Welt ertönen.
Damals war Wallander Polizist gewesen. Das war er immer noch.
Nachdem Sten Widen eingesehen hatte, daß seine Stimme nicht ausreichte, übernahm er den heruntergewirtschafteten Rennstall seines Vaters, um Galopprennpferde zu trainieren. |76| Ihre frühere Freundschaft hatte der gemeinsamen Enttäuschung nicht standhalten können. Nachdem sie sich früher täglich getroffen hatten, waren nun elf Jahre seit ihrer letzten Begegnung verstrichen. Obwohl sie nicht mehr als fünfzig Kilometer voneinander entfernt wohnten.
»Du bist dicker geworden«, meinte Sten Widen und nahm einen Stapel Zeitungen von einem Stuhl.
»Du nicht«, erwiderte Kurt Wallander und spürte, daß ihn die Bemerkung irritierte.
»Galopptrainer werden selten fett«, gab Sten Widen zurück und lachte wieder sein nervöses Lachen. »Dünne Knochen und dünne Brieftaschen; außer den Erfolgstrainern natürlich. Khan oder Strasser. Die haben Geld.«
»Wie läuft es denn so?« fragte Kurt Wallander und setzte sich auf den Stuhl.
»Weder gut noch schlecht«, antwortete Sten Widen. »Ich habe weder besonderes Glück noch besonderes Pech. Ich trainiere immer ein Pferd, das sich ganz gut macht. Ich bekomme regelmäßig junge Pferde rein und komme über die Runden. Aber eigentlich …«
Er brach ab, ohne den Satz zu beenden.
Dann streckte er sich, öffnete eine Schreibtischschublade und nahm eine halbleere Whiskyflasche
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