Wallander 01 - Mörder ohne Gesicht
heraus.
»Magst du?« fragte er.
Kurt Wallander schüttelte den Kopf.
»Es macht keinen besonders guten Eindruck, wenn ein Polizist wegen Alkohol am Steuer geschnappt wird«, antwortete er.
»Trotzdem Prost«, sagte Sten Widen und nahm einen Schluck aus der Flasche.
Er nahm eine Zigarette aus der zerknitterten Packung und suchte zwischen Papieren und Rennprogrammen nach seinem Feuerzeug.
»Und wie geht es Mona?« fragte er. »Und Linda? Und deinem Vater? Wie hieß deine Schwester noch mal? Kerstin?«
»Kristina.«
|77| »Genau. Kristina. Tja, du weißt ja: mit meinem Gedächtnis war es noch nie so gut bestellt.«
»Noten hast du aber nie vergessen.«
»Nein?«
Er nahm noch einen Schluck aus der Flasche, und Kurt Wallander sah, daß ihn etwas bedrückte. Vielleicht hätte er ihn doch nicht besuchen sollen? Vielleicht wollte er nicht an das erinnert werden, was einmal gewesen war.
»Mona und ich haben uns getrennt«, sagte er. »Und Linda hat eine eigene Wohnung. Bei Vater ist alles wie immer. Er malt seine Bilder. Aber ich befürchte, daß er anfängt, senil zu werden. Ich weiß nicht so recht, was ich mit ihm machen soll.«
»Wußtest du, daß ich geheiratet habe?« fragte Sten Widen. Wallander überkam das Gefühl, daß er ihm überhaupt nicht zugehört hatte.
»Nein, woher?«
»Ich habe ja diesen verdammten Stall übernommen. Als Vater zum Schluß einsah, daß er zu alt war, um mit Pferden arbeiten zu können, fing er richtig an zu saufen. Früher hatte er ja immer noch Kontrolle über die Mengen, die er in sich hineinschüttete. Mir wurde klar, daß ich ihn und seine Saufkumpane nicht länger ertragen konnte. Ich heiratete eines der Mädchen, die hier im Stall arbeiteten. Es war wohl auch aus dem Grund, weil sie so gut mit Vater umgehen konnte. Sie behandelte ihn wie ein altes Pferd. Mischte sich nicht in seine Gewohnheiten ein, setzte aber Grenzen. Nahm den Gummischlauch und spritzte ihn ab, wenn er dreckig war. Aber als Vater starb, war es, als habe sie angefangen, genauso zu riechen wie er. Da ließ ich mich scheiden.«
Er nahm einen weiteren Schluck aus der Flasche, und Kurt Wallander merkte, daß er langsam betrunken wurde.
»Jeden Tag spiele ich mit dem Gedanken, diesen Stall zu verkaufen«, sagte er. »Mir gehört das gesamte Anwesen. Für alles zusammen kann ich sicher eine Million bekommen. Wenn man die Schulden abzieht, bleiben mir vielleicht vierhunderttausend |78| übrig. Dann kaufe ich mir ein Wohnmobil und fahre los.«
»Wohin denn?«
»Das ist es ja gerade. Ich weiß es nicht. Es gibt keinen Ort, an den ich fahren möchte.«
Kurt Wallander gefiel nicht, was er da hörte. Auch wenn Sten Widen nach außen hin derselbe war wie vor zehn Jahren, schienen sich in seinem Innern große Veränderungen ereignet zu haben. Es war eine Geisterstimme, die zu ihm sprach, gebrochen und verzweifelt. Vor zehn Jahren war Sten Widen fröhlich und aufgekratzt gewesen, der erste, den man auf eine Party eingeladen hätte. Heute schien jegliche Lebensfreude wie weggeblasen.
Das Mädchen, das Kurt Wallander gefragt hatte, ob er Polizist wäre, ritt am Fenster vorbei.
»Wer ist sie?« fragte Kurt Wallander. »Sie hat sofort gesehen, daß ich Polizist bin.«
»Sie heißt Louise«, antwortete Sten Widen. »Weißt du, sie erkennt einen Polizisten hundert Meter gegen den Wind. Seit sie zwölf ist, geht sie in Anstalten aus und ein. Ich bin ihr Bewährungshelfer. Sie kann gut mit Pferden umgehen. Aber sie haßt Polizisten. Sie behauptet, daß sie einmal von einem Polizisten vergewaltigt worden ist.«
Er nahm noch einen Schluck aus der Flasche und machte eine Geste zu dem ungemachten Bett.
»Sie schläft manchmal mit mir. Zumindest fühlt es sich so an. Daß sie es ist, die mit mir schläft und nicht umgekehrt. Ist das eigentlich strafbar?«
»Warum sollte es das sein? Sie ist doch nicht minderjährig?«
»Sie ist neunzehn. Aber vielleicht dürfen Bewährungshelfer nicht mit denjenigen schlafen, um die sie sich zu kümmern haben?«
Kurt Wallander glaubte zu spüren, wie Sten Widens Stimme zunehmend aggressiv wurde.
|79| Plötzlich bereute er, überhaupt gekommen zu sein.
Obwohl er einen fahndungstechnischen Grund gehabt hatte, ihn zu besuchen, fragte er sich nun, ob dies nicht nur ein Vorwand gewesen war. Hatte er Sten Widen aufgesucht, um über Mona zu reden? Um Trost zu suchen?
Er wußte es nicht mehr.
»Ich bin hergekommen, um mit dir über Pferde zu reden«, sagte er. »Du hast vielleicht in der
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