Wallander 01 - Mörder ohne Gesicht
meinetwegen ruhig etwas stürmen.«
Während er auf Rydberg wartete, suchte er nach dem Zettel, den er von Sten Widen bekommen hatte. Nach Lars Herdins Besuch begriff er, daß es trotz allem vielleicht doch nicht so merkwürdig war, daß jemand dem Pferd in jener Nacht Heu gegeben hatte. Waren die Mörder unter Johannes und Maria Lövgrens Bekannten oder sogar in ihrer Familie zu suchen, dann wußten sie natürlich von dem Pferd. Vielleicht wußten sie sogar, daß Johannes Lövgren jede Nacht zum Stall hinausging?
Von dem, was Sten Widen eigentlich in der Sache tun konnte, hatte er bloß eine ausgesprochen vage Vorstellung. Vielleicht rief er ihn auch nur an, um nicht noch einmal den Kontakt zu ihm zu verlieren?
Niemand hob ab, obwohl er es mehr als eine Minute klingeln ließ. Er legte den Hörer wieder auf und beschloß, es später noch einmal zu versuchen.
Es gab auch noch ein anderes Telefonat, das er vor Rydbergs Ankunft erledigen wollte. Er wählte die Nummer und wartete.
»Staatsanwaltschaft«, meldete sich eine gutgelaunte Frauenstimme.
»Ich bin’s, Kurt Wallander. Ist Åkesson da?«
»Er hat das ganze Frühjahr frei genommen. Hast du das vergessen?«
Das hatte er in der Tat vergessen. Daß der Staatsanwalt der Stadt, Per Åkesson, an einer Fortbildungsmaßnahme teilnahm, war ihm völlig entfallen. Dabei waren sie noch Ende November gemeinsam Essen gewesen.
|103| »Ich kann dich mit seinem Vertreter verbinden, wenn du willst«, sagte die Sekretärin.
»Ja, bitte«, antwortete Kurt Wallander.
Zu seinem Erstaunen meldete sich eine Frau.
»Anette Brolin.«
»Ich hätte gerne mit dem Staatsanwalt gesprochen«, sagte Kurt Wallander.
»Das bin ich«, antwortete die Frau. »Worum geht es?«
Kurt Wallander fiel ein, daß er sich nicht einmal vorgestellt hatte. Er sagte seinen Namen und fuhr fort: »Es geht um den Doppelmord. Ich dachte, es wäre langsam an der Zeit, der Staatsanwaltschaft über den Stand der Ermittlungen zu berichten. Ich hatte vergessen, daß Per nicht im Dienst ist.«
»Wenn Sie sich heute vormittag nicht gemeldet hätten, hätte ich sowieso von mir hören lassen«, sagte die Frau.
Kurt Wallander glaubte, einen vorwurfsvollen Ton aus ihrer Stimme heraushören zu können. Blöde Ziege, dachte er. Willst du mir etwa beibringen, wie die Polizei mit der Staatsanwaltschaft zusammenzuarbeiten hat?
»Um die Wahrheit zu sagen, gibt es von uns aus nicht viel Nennenswertes zu berichten«, sagte er und merkte gleichzeitig, daß seine Stimme abweisend klang.
»Ist in Kürze mit einer Verhaftung zu rechnen?«
»Nein. Ich hatte vor allem an eine knappe Information gedacht.«
»Schön«, erwiderte die Frau. »Wie wäre es mit elf Uhr hier bei mir? Ich habe eine Verhandlung um Viertel nach zehn. Aber um elf bin ich wieder zurück.«
»Kann sein, daß ich etwas später komme. Wir haben eine Fahndungsbesprechung um zehn. Das kann sich hinziehen.«
»Versuchen Sie bitte, es bis elf Uhr möglich zu machen.«
Sie beendeten das Gespräch, und er saß mit dem Hörer in der Hand da.
Die Zusammenarbeit zwischen der Polizei und der Staatsanwaltschaft gestaltete sich nicht immer einfach. Aber Kurt |104| Wallander war es gelungen, ein vertrauensvolles und unbürokratisches Verhältnis zu Per Åkesson aufzubauen. Sie telefonierten oft miteinander und fragten einander um Rat. Selten, ja fast nie, herrschte Uneinigkeit darüber, ob und wann eine Verhaftung oder eine Freilassung berechtigt war.
»Scheiße«, sagte er laut zu sich selbst. »Anette Brolin, wer ist das eigentlich?«
Im gleichen Augenblick hörte er das unverkennbare Geräusch von Rydbergs Humpeln draußen auf dem Flur. Er steckte den Kopf zur Tür hinaus und bat ihn, hereinzukommen. Rydberg war mit einer altmodischen Pelzjacke und einer Baskenmütze bekleidet. Als er sich setzte, verzog er das Gesicht.
»Schmerzen?« fragte Kurt Wallander und zeigte auf das Bein.
»Regen ist kein Problem«, sagte Rydberg. »Oder Schnee. Oder auch Kälte. Aber dieses verdammte Bein verträgt einfach keinen Wind. Was willst du?«
Kurt Wallander berichtete von dem anonymen Drohanruf, den er in der Nacht bekommen hatte.
»Was glaubst du«, wollte er wissen, als er fertig war. »Ernst gemeint oder nicht?«
»Ernst gemeint. Auf jeden Fall sollten wir es so behandeln.«
»Ich habe vor, heute nachmittag eine Pressekonferenz abzuhalten. Wir berichten über den Stand der Ermittlungen und stellen Lars Herdins Geschichte in den Mittelpunkt. Natürlich ohne
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