Wallander 02 - Hunde von Riga
hierbleiben«, sagte er. »Versuchen Sie, sich auszuruhen.«
Anschließend lag Wallander völlig regungslos da und lauschte dem Rauschen einer unsichtbaren Belüftung. Auf dem Flur waren Stimmen zu hören.
|30| Jeder Schmerz hat eine Ursache, dachte er. Wenn es nicht das Herz war, was dann? Mein ewiges schlechtes Gewissen darüber, daß ich meinem Vater so selten Zeit und Kraft widme? Die Sorge, daß die Briefe meiner Tochter aus der Volkshochschule in Stockholm doch nicht der Wahrheit entsprechen? Daß es überhaupt nicht stimmt, wenn sie schreibt, sie fühle sich wohl, arbeite, sehe sich heute von etwas erfüllt, wonach sie lange gesucht habe. Ist es vielleicht so, daß ich, ohne mir dessen bewußt zu sein, ständig fürchte, sie werde wieder versuchen, sich das Leben zu nehmen, wie damals, als sie fünfzehn war? Oder läßt sich der Schmerz aus der Eifersucht ableiten, die ich immer noch wegen Mona empfinde, die mich verlassen hat? Obwohl seitdem mehr als ein Jahr vergangen ist?
Das Licht im Raum war grell. Er dachte, daß sein ganzes Leben von Trostlosigkeit geprägt war, aus der es keinen Ausweg gab. Aber konnte ein Schmerz wie jener, den er soeben verspürt hatte, wirklich nur aus seiner Einsamkeit entstehen? Er fand keine Antworten, denen er nicht sofort wieder mißtraut hätte.
»Ich kann so nicht weiterleben«, sagte er laut zu sich selbst. »Ich muß mich mit meinem Leben auseinandersetzen. Bald. Jetzt.«
Um sechs Uhr erwachte er mit einem Ruck. Der Arzt stand neben ihm und sah ihn an.
»Keine Schmerzen?« fragte er.
»Es scheint alles in Ordnung zu sein«, antwortete Wallander. »Was kann das bloß gewesen sein?«
»Anspannung«, entgegnete der Arzt. »Streß. Sie wissen bestimmt selbst am besten, was es gewesen ist.«
»Ja«, sagte Wallander. »Wahrscheinlich.«
»Ich bin der Meinung, daß Sie sich einer gründlichen Generaluntersuchung unterziehen sollten«, meinte der Arzt. »Um sicher zu gehen, daß Ihnen nicht doch körperlich etwas fehlt. |31| Dann wird es Ihnen auch leichter fallen, in Ihr Inneres zu schauen, um festzustellen, was sich in den Schatten verbirgt.«
Er fuhr nach Hause, duschte und trank Kaffee. Das Thermometer zeigte drei Grad unter Null. Der Himmel war auf einmal völlig klar, und es war windstill. Erfüllt von den Gedanken der Nacht blieb er noch lange sitzen. Die Schmerzen und der Aufenthalt im Krankenhaus waren von einem unwirklichen Schimmer umgeben. Aber er begriff, daß er es nicht einfach ignorieren konnte. Für sein Leben trug er selbst die Verantwortung.
Erst als die Uhr Viertel nach acht anzeigte, zwang er sich, wieder Polizist zu werden.
Unmittelbar nach seiner Ankunft im Polizeipräsidium hatte er eine heftige Auseinandersetzung mit Björk, der die Meinung vertrat, die Spurensicherung aus Stockholm hätte unverzüglich zur gründlichen Untersuchung des Tatorts hinzugezogen werden müssen.
»Es gab keinen Tatort«, antwortete Wallander. »Wenn es überhaupt etwas gibt, dessen wir sicher sein können, dann ist es die Tatsache, daß diese Männer nicht in dem Rettungsboot ermordet wurden.«
»Jetzt, da Rydberg nicht mehr da ist, müssen wir uns Hilfe von außen holen«, fuhr Björk fort. »Wir haben einfach nicht die nötige Kompetenz. Wie ist es nur möglich, daß ihr nicht einmal den Strand an der Stelle, wo das Boot gefunden wurde, abgesperrt habt?«
»Der Strand war nicht der Tatort. Das Boot trieb draußen auf See. Sollten wir ein Plastikband um die Wellen spannen?«
Kurt Wallander wurde langsam wütend. Es stimmte, daß weder er selbst noch irgendein anderer der Kriminalpolizisten in Ystad über Rydbergs Erfahrung verfügte. Aber dies bedeutete noch lange nicht, daß sie nicht in der Lage waren zu entscheiden, wann Spezialisten von der Spurensicherung aus Stockholm benötigt wurden.
|32| »Entweder läßt du mich die Entscheidungen treffen«, sagte er. »Oder du übernimmst selbst die Verantwortung für die Ermittlung.«
»Darum geht es doch gar nicht«, antwortete Björk. »Aber ich bin immer noch der Meinung, daß es eine Fehleinschätzung war, sich nicht mit Stockholm abzusprechen.«
»Da bin ich aber ganz anderer Meinung«, erwiderte Wallander. Dann hatten sie sich nichts mehr zu sagen.
»Ich komme in ein paar Minuten zu dir«, sagte Wallander. »Ich habe da einiges Material, zu dem du dich äußern mußt.«
Björk staunte.
»Haben wir etwas, dem wir nachgehen können?« fragte er. »Ich dachte, wir würden völlig in der Luft
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