Wallander 02 - Hunde von Riga
daß in der Nähe niemand sonst war, glaubte lange genug geredet zu haben, beugte sich weiter vor, als ob er sie gebeten hätte, ihm ein Detail auf einer der Ansichtskarten zu erklären.
»Sie erkennen mich wieder«, sagte er. »Sie haben mir einmal |283| eine Eintrittskarte für ein Konzert gegeben, bei dem ich Baiba Liepa getroffen habe. Jetzt müssen Sie mir helfen, sie wieder zu treffen. Ich kenne niemand anderen als Sie, den ich um Hilfe bitten könnte. Es ist wichtig, daß ich die Chance bekomme, Baiba Liepa zu treffen. Aber Sie müssen wissen, daß es sehr gefährlich ist, da sie überwacht wird. Ich weiß nicht, ob Sie gehört haben, was gestern geschehen ist. Zeigen Sie mir etwas in der Broschüre, tun Sie, als würden Sie mir etwas erklären, und antworten Sie mir gleichzeitig.«
Ihre Unterlippe begann zu zittern, und er sah, daß ihre Augen sich mit Tränen füllten. Da er nicht riskieren konnte, daß sie anfing zu weinen, sagte er schnell, daß er an Karten mit Motiven aus ganz Lettland und nicht nur aus Riga interessiert sei. Ein guter Freund hatte ihm von der großen Auswahl erzählt, die man
immer
im Hotel »Latvija« fände.
Sie faßte sich wieder, und er sagte ihr, er hätte verstanden. Sie hatte es also gewußt, aber hatte sie auch erfahren, daß er nach Lettland zurückgekommen war? Sie schüttelte den Kopf.
»Ich weiß nicht, wo ich hin soll«, fuhr er fort. »Ich muß mich irgendwo verstecken, während Sie mir helfen, Baiba zu treffen.«
Er wußte nicht einmal ihren Namen, nur daß ihre Lippen viel zu rot waren. Hatte er eigentlich das Recht, sie für seine Zwecke einzuspannen? Hätte er nicht doch besser aufgeben und sich zur schwedischen Vertretung durchfragen sollen? Wo verlief in einem Land, in dem unschuldige Menschen erschossen werden konnten, eigentlich die Grenze für das Vernünftige und Anständige?
»Ich weiß nicht, ob ich ein Treffen zwischen Ihnen und Baiba organisieren kann«, sagte sie mit leiser Stimme. »Ich habe keine Ahnung, ob das jetzt noch möglich ist. Aber ich kann Sie bei mir zu Hause verstecken. Ich bin viel zu unbedeutend, um das Interesse der Polizei auf mich zu ziehen. Kommen Sie in einer Stunde hierher zurück. Warten Sie an der Bushaltestelle auf der anderen Straßenseite. Gehen Sie jetzt.«
|284| Er richtete sich auf, dankte ihr, wie der von ihm gespielte zufriedene Kunde es getan hätte, steckte eine Broschüre in die Tasche und verließ das Hotel. Während der nächsten Stunde mischte er sich unter die Menschen in einem der großen Kaufhäuser und kaufte in der Absicht, sein Aussehen erneut zu verändern, eine neue Mütze. Zur verabredeten Zeit stellte er sich an die Bushaltestelle. Er sah sie aus dem Hotel kommen, und als sie neben ihm stand, tat sie so, als wäre er ihr fremd. Sie stiegen in den Bus, der nach ein paar Minuten kam, und er setzte sich einige Reihen hinter sie. Der Bus fuhr über eine halbe Stunde lang durch die Innenstadt, bevor er seinen Weg in einen der Vororte Rigas aufnahm. Wallander versuchte, sich den Weg zu merken, aber er erkannte nur den riesigen Kirovpark wieder. Sie fuhren durch eine unendlich erscheinende düstere Wohngegend. Als sie das Haltesignal drückte, war er nicht darauf gefaßt und wäre fast nicht mehr rechtzeitig aus dem Bus gekommen. Sie überquerten einen überfrorenen Spielplatz, auf dem einige Kinder an einem rostigen Eisengestell kletterten. Wallander trat auf eine tote Katze, die aufgedunsen auf der Erde lag, und folgte der Frau in einen dunklen und hallenden Toreingang. Sie gelangten auf einen offenen Hinterhof, wo ihnen der kalte Wind ins Gesicht blies. Sie wandte sich ihm zu.
»Ich wohne sehr beengt«, sagte sie. »Mein alter Vater wohnt bei mir. Ich werde einfach erzählen, daß Sie ein obdachloser Freund sind. Unser Land ist voller Menschen, die keine Wohnung haben, da ist es ganz natürlich, daß wir einander helfen. Später kommen meine beiden Kinder aus der Schule nach Hause. Ich schreibe einen Zettel, daß Sie ein Freund sind, und daß sie Ihnen Tee kochen sollen. Es ist sehr eng, aber es ist alles, was ich Ihnen anbieten kann. Ich muß sofort zum Hotel zurück.«
Die Wohnung bestand aus zwei Zimmern, einer Küche, die eher einer Kochnische in einem offenen Kleiderschrank glich, und einem winzigen Badezimmer. Auf einem Bett ruhte ein alter Mann.
|285| »Ich weiß nicht einmal, wie Sie heißen«, sagte Wallander, als er den ihm gereichten Kleiderbügel annahm.
»Vera«, antwortete sie. »Sie sind
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