Wallander 02 - Hunde von Riga
instinktiven Gefühl, daß die Häscher ihn bereits gefunden hatten und nun irgendwo in den Schatten warteten.
»Warum sollten sie warten?« wandte Baiba ein. »Für diese Menschen gibt es keinen Grund zu warten, wenn sie die Absicht haben, andere, die ihre Existenz bedrohen, zu fassen und zu bestrafen.«
Wallander mußte einsehen, daß sie recht haben konnte. Doch er war sich sicher, daß es ihnen vor allem auf das Testament des Majors ankam, die hinterlassenen Beweise schreckten sie, nicht eine Witwe und ein ihrer Einschätzung nach naiver schwedischer Polizist, der sich zu einem privaten und geheimen Rachefeldzug aufgemacht hatte.
Ihm war noch ein anderer Gedanke gekommen, ein Gedanke, der so verblüffend war, daß er Baiba zunächst nichts sagte. Aber er hatte plötzlich eingesehen, daß tatsächlich ein dritter Grund dafür existieren konnte, daß die Beschatter sich nicht zu erkennen gaben, sie nicht ergriffen und in das befestigte Polizeihauptquartier abführten. Je länger er in dieser langen Nacht in der Kirche diese Möglichkeit erwog, desto glaubhafter erschien sie ihm. Aber er sagte erst einmal nichts, um Baiba nicht noch mehr zu belasten.
Er spürte, daß sie so verzweifelt war, weil sie Karlis’ Testament nicht finden konnte, und weil sie um Inese und die anderen Freunde trauerte. Sie hatte alle nur erdenklichen Möglichkeiten |295| überprüft, hatte versucht, sich in die Denkweise ihres Mannes hineinzuversetzen, aber trotzdem nicht die Lösung gefunden. Sie hatte Kacheln im Badezimmer herausgerissen und die Polster der Möbel zerschnitten, aber nirgends etwas anderes gefunden als Staub und Überreste von toten Mäusen.
Wallander versuchte ihr zu helfen. Sie saßen sich gegenüber, sie schenkte Tee ein, und das Licht der Petroleumlampe verwandelte das düstere Kirchengewölbe in einen Raum voller Nähe und Wärme. Am liebsten hätte Wallander sie in den Arm genommen und ihre Trauer geteilt. Wieder dachte er daran, sie mit sich nach Schweden zu nehmen. Aber er wußte, daß sie sich das nicht würde vorstellen können, erst recht nicht jetzt, nachdem Inese und die anderen Freunde ermordet worden waren. Sie würde lieber sterben, als den Gedanken aufzugeben, das Testament ihres Mannes zu finden.
Gleichzeitig überprüfte er die dritte Erklärung für das Stillhalten ihrer Verfolger. Er war inzwischen davon überzeugt, daß sie nicht nur einen Feind hatten, der in den Schatten lauerte, sondern auch einen
Feind des Feindes
, der sie überwachte.
Der Kondor
und
der Kiebitz
, dachte er. Ich weiß nach wie vor nicht, welcher Oberst welches Federkleid trägt. Aber vielleicht kennt
der Kiebitz den Kondor
und will dessen Opfer schützen?
Die Nacht in der Kirche war wie eine Reise in einen unbekannten Kontinent. Dort versuchten sie, etwas zu finden, von dem sie nicht einmal wußten, wie es aussah. Ein Paket? Eine Tasche? Wallander hielt den Major für einen weisen Mann, der wußte, daß ein Versteck seinen Wert verlor, wenn es zu gut gewählt war. Aber um in die entschlossene Welt des Majors eindringen zu können, mußte er mehr über Baiba wissen. Er stellte Fragen, die er eigentlich nicht hatte stellen wollen, aber sie forderte, er sollte keine Rücksicht nehmen.
Mit ihrer Hilfe durchforschte er das Leben der beiden bis in die intimsten Details. Hin und wieder erreichten sie einen Punkt, an dem er glaubte, der Lösung auf die Spur gekommen zu sein. Aber jedesmal stellte sich heraus, daß Baiba die Möglichkeit |296| bereits bedacht und die Spur sich als kalt erwiesen hatte.
Morgens um halb vier war er nahe daran aufzugeben. Er betrachtete mit müden Augen ihr erschöpftes Gesicht.
»Was gibt es noch?« Er richtete die Frage auch an sich selbst. »Wo kann man noch suchen? Ein Versteck muß
irgendwo
sein, in einem Raum. Einem unbeweglichen Raum, wasserdicht, brandsicher, einbruchsicher. Was bleibt da noch?«
Er zwang sich, weiterzumachen.
»Hat euer Haus einen Keller?« fragte er.
Sie schüttelte den Kopf.
»Über den Dachboden haben wir schon gesprochen. Die gesamte Wohnung haben wir auf den Kopf gestellt, das Ferienhaus deiner Schwester, das Haus seines Vaters in Ventspils. Denk nach, Baiba. Es muß noch eine andere Möglichkeit geben.«
Er spürte, daß sie am Rande eines Zusammenbruchs stand.
»Nein«, sagte sie. »Einen anderen Platz gibt es nicht.«
»Es muß nicht unbedingt in einem Haus sein. Du hast erzählt, daß ihr manchmal ans Meer gefahren seid. War dort ein Stein, auf dem ihr immer
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