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Wallander 02 - Hunde von Riga

Wallander 02 - Hunde von Riga

Titel: Wallander 02 - Hunde von Riga Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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konnte, ging er zur Kirchenmauer und wartete dort.
    Baiba Liepa tauchte lautlos an seiner Seite auf, sie schien ein Teil der Dunkelheit gewesen zu sein, der sich nun löste und Gestalt annahm. Er zuckte zusammen, als er sie entdeckte. Sie flüsterte ihm etwas zu, das er nicht verstand. Dann zog sie ihn hastig durch die nur angelehnte Tür ins Seitenschiff, und da begriff er, daß sie in der Kirche auf ihn gewartet hatte. Sie schloß die Tür mit einem großen Schlüssel ab und ging zum Altarraum. Die Dunkelheit im Innern der Kirche war undurchdringlich, sie führte ihn wie einen Blinden an der Hand, und er konnte nicht verstehen, wie sie sich in dieser Finsternis orientieren konnte. Hinter der Sakristei befand sich ein fensterloser Abstellraum, wo eine Petroleumlampe auf einem Tisch stand. Hier hatte sie auf ihn gewartet. Ihre Pelzmütze lag auf einem Stuhl, und zu seiner Verwunderung und Rührung entdeckte er ein Foto des Majors neben der Lampe. Er sah auch eine Thermoskanne, ein paar Äpfel und ein Stück Brot. Es hatte den Anschein, als wollte sie ihn zu einem letzten Abendmahl einladen, und er fragte sich, wie lange es dauern würde, bis die beiden Obersten sie eingeholt hatten. Er fragte sich auch, welche Einstellung sie zur Kirche hatte, ob sie im Gegensatz zu ihrem verstorbenen Mann einen Gott hatte. Im Grunde genommen wußte er genauso wenig über sie, wie er damals über ihren Mann gewußt hatte.
    Als sie in dem Raum hinter der Sakristei angelangt waren, umarmte sie ihn fest. Sie weinte, und ihre Trauer und Wut waren so stark, daß ihre Hände sich wie Eisenklauen hinter seinem Rücken verschränkten.
    »Sie haben Inese getötet«, flüsterte sie. »Sie haben alle getötet. Ich glaubte, auch du wärst tot. Ich glaubte, alles wäre aus und vorbei, bis Vera mich anrief.«
    »Es war entsetzlich«, sagte Wallander. »Aber daran dürfen wir jetzt nicht denken.«
    |293| Sie sah ihn erstaunt an.
    »Wir müssen immer daran denken«, erwiderte sie. »Wenn wir das vergessen, dann vergessen wir, daß wir Menschen sind.«
    »Ich meinte nicht, daß wir vergessen sollen«, erklärte er. »Ich meine bloß, daß wir weitermachen müssen. Die Trauer lähmt uns.«
    Sie sank auf einen Stuhl. Er sah, daß Müdigkeit und Schmerz an ihr gezehrt hatten, und überlegte, wie lange sie noch durchhalten würde.
    In dieser Nacht, die sie gemeinsam in der Kirche verbrachten, glaubte Kurt Wallander zum ersten Mal in seinem Leben, bis ins Herz des Jahrhunderts gestoßen zu sein. Bis dahin hatte er selten über den Sinn des Lebens nachgedacht. Manchmal, in düsteren Momenten, wenn er auf Menschen sah, die erschlagen worden waren, auf Kinder, die bei Verkehrsunfällen getötet wurden, auf verzweifelte Selbstmörder, traf ihn die Einsicht, wie kurz das Leben angesichts des Todes war, wie ein Schlag. Man lebte nur kurze Zeit, man würde unendlich lange tot sein. Aber er besaß ein großes Talent, solche Gedanken zu verdrängen; das Leben war für ihn zum größten Teil ein praktisches Durcheinander, und er glaubte nicht, daß er sein Dasein bereichern konnte, wenn er nur einer bestimmten Philosophie folgte. Ebenso wenig hatte er sich über die Epoche Gedanken gemacht, in die er zufällig geraten war. Man wurde irgendwann geboren, und man starb irgendwann; anders hatte er die Grenzen des Daseins noch nie zu betrachten vermocht. Aber die Erlebnisse dieser Nacht ließen ihn tiefer als bisher in sich hineinblicken. Er begriff, daß die Welt ganz anders aussah als Schweden, und seine eigenen Probleme kamen ihm verglichen mit den Schrecken, die Baiba Liepas Leben prägten, belanglos vor. Er schien erst in dieser Nacht zu begreifen, daß es tatsächlich ein Massaker gegeben hatte, daß Inese tot war: Das Unwirkliche wurde wirklich. Die Obersten existierten, Sergeant Zids feuerte mit einer echten Waffe tödliche Kugeln ab, |294| die Herzen sprengen und im Bruchteil einer Sekunde ein verlassenes Universum schaffen konnten. Er machte sich Gedanken darüber, welch verzehrende Qual ein permanenter Angstzustand sein mußte. Das Zeitalter der Angst, dachte er. Das ist meine Zeit, und das habe ich erst jetzt begriffen, da ich bereits über vierzig bin.
    Baiba sagte, daß sie in der Kirche sicher wären, so sicher sie nun einmal sein konnten. Der Pfarrer der Kirche war ein enger Freund von Karlis Liepa gewesen und hatte nicht gezögert, Baiba ein Versteck zur Verfügung zu stellen, als diese ihn um Hilfe gebeten hatte. Wallander erzählte von seinem

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