Wallander 02 - Hunde von Riga
gesessen habt? Wo habt ihr euer Zelt aufgeschlagen?«
»Das habe ich doch schon alles erzählt. Ich weiß, daß Karlis dort niemals etwas versteckt hätte.«
»Habt ihr euer Zelt wirklich immer an der gleichen Stelle aufgeschlagen? In acht aufeinanderfolgenden Sommern? Vielleicht habt ihr ein einziges Mal eine andere Stelle gewählt?«
»Wir beide haben uns immer darauf gefreut, an einen bekannten Ort zurückkehren zu können.«
Sie wollte weitergehen, aber er trieb sie die ganze Zeit zurück. Er war überzeugt, daß der Major niemals ein zufälliges Versteck gewählt hätte. Der von ihm ausgesuchte Ort mußte ganz einfach in ihrer gemeinsamen Geschichte zu finden sein.
Er fing wieder von vorne an. Das Petroleum in der Lampe |297| war verbraucht, aber Baiba beschaffte eine Kirchenkerze und tropfte etwas Wachs auf eine Papiermanschette. Danach gingen sie noch einmal den gemeinsamen Lebensweg der beiden durch. Wallander fürchtete, daß Baiba vor Erschöpfung ohnmächtig werden könnte. Er fragte sich, wann sie zum letzten Mal geschlafen hatte, und versuchte sie aufzumuntern, indem er sich optimistisch gab. Er begann noch einmal mit ihrer gemeinsamen Wohnung. Könnte sie vielleicht trotz allem etwas übersehen haben? Ein Haus besteht aus einer Unzahl von Hohlräumen.
Er zog sie von Zimmer zu Zimmer. Zum Schluß war sie so müde, daß sie ihre Antworten herausschrie.
»Es existiert nicht!« schrie sie. »Wir hatten ein Heim, nur im Sommer waren wir fort. Tagsüber war ich an der Universität, und Karlis fuhr ins Polizeihauptquartier. Es existieren keine Unterlagen. Karlis muß geglaubt haben, daß er unsterblich ist.«
Wallander merkte, daß sich ihre Wut nun auch gegen ihren Mann richtete. Ihr Klageruf erinnerte ihn an das Jahr zuvor, als ein somalischer Flüchtling in Schweden ermordet worden war und Martinsson versucht hatte, die verzweifelte Witwe zu beruhigen.
Wir leben im Zeitalter der Witwen, überlegte er. Die Wohnstätten der Witwen und der Angst sind unser Zuhause …
Plötzlich unterbrach er seinen Gedankengang. Baiba erkannte sofort, daß ihm eine völlig neue Idee gekommen war.
»Was ist los?« flüsterte sie.
»Warte«, antwortete er. »Ich muß nachdenken.«
Konnte das möglich sein? Er prüfte den Gedanken aus unterschiedlichen Blickwinkeln, versuchte ihn als einen sinnlosen Einfall zu verwerfen. Aber er ließ ihn trotzdem nicht los.
»Ich möchte dir eine Frage stellen«, sagte er langsam. »Und ich will, daß du antwortest, ohne nachzudenken. Ich will, daß du sofort antwortest. Wenn du anfängst nachzudenken, könntest du die Antwort verfälschen.«
|298| Sie betrachtete ihn gespannt im Licht der flackernden Flamme.
»Ist es möglich, daß Karlis das undenkbarste aller Verstecke gewählt hat«, fragte er. »Ein Versteck im Polizeihauptquartier?«
Er sah es in ihren Augen aufblitzen.
»Ja«, antwortete sie schnell. »Das wäre möglich.«
»Warum?«
»Karlis war so. Es würde zu seinem Charakter passen.«
»Wo?«
»Ich weiß es nicht.«
»Sein eigenes Büro kann es unmöglich sein. Hat er jemals über das Polizeihauptquartier gesprochen?«
»Er fand es abscheulich. Wie ein Gefängnis. Es
war
ein Gefängnis.«
»Denk nach, Baiba. Gab es einen Raum, den er besonders erwähnte? Der ihm mehr bedeutete als die anderen? Den er mehr als alle übrigen Räume verabscheute? Oder den er vielleicht sogar mochte?«
»In den Vernehmungszimmern konnte ihm regelrecht übel werden.«
»Dort kann man nichts verstecken.«
»Er haßte die Zimmer der Obersten.«
»Auch dort kann er nichts versteckt haben.«
Sie dachte so angestrengt nach, daß sie die Augen schloß.
Als sie die Augen wieder aufschlug, hatte sie die Antwort.
»Karlis sprach oft vom Raum des Bösen. Er sagte, daß in diesem Raum sämtliche Dokumente versteckt seien, die all jenes Unrecht, das unser Land getroffen hat, beschrieben. Natürlich hat er dort sein Testament versteckt. Mitten zwischen den Erinnerungen an alle, die so lange und so schwer gelitten haben. Er hat seine Papiere irgendwo im Archiv des Polizeihauptquartiers abgelegt.« Wallander betrachtete ihr Gesicht. Plötzlich war alle Müdigkeit wie weggeblasen.
»Ja«, sagte er. »Ich glaube, du hast recht. Er hat ein Versteck |299| innerhalb eines anderen Verstecks gewählt. Er hat das chinesische Kästchen gewählt. Aber wie hat er sein Testament gekennzeichnet, so daß nur du es wiederfinden kannst?«
Plötzlich begann sie gleichzeitig zu lachen und zu
Weitere Kostenlose Bücher