Wallander 02 - Hunde von Riga
eine Zigarette anzuzünden, begriff Wallander innerhalb des Bruchteils einer Sekunde, daß dies seine einzige Chance war. Er warf dem Offizier die blaue Mappe auf die Füße und versetzte dem Mann gleichzeitig mit aller Kraft einen Schlag in den Nacken. Er spürte, wie es in seinen Fingerknöcheln krachte, und der Schmerz war fürchterlich, aber der Offizier brach bewußtlos auf dem Boden zusammen, und die Pistole schlitterte lärmend über den Steinfußboden. Wallander wußte nicht, ob der Mann tot oder nur bewußtlos war. Seine eigene Hand jedenfalls ließ sich vor Schmerz nicht bewegen. Er hob die Mappe auf, steckte die Pistole in die Tasche und dachte, daß es keine gute Idee wäre, jetzt den Aufzug zu benutzen. Er versuchte, sich durch einen Blick aus einem Fenster zu orientieren, das zu dem dunklen Burghof hinaus lag. Nach einer Weile wurde ihm klar, daß er sich in dem Flur der Obersten befand. Der Mann gegenüber auf dem Boden begann zu stöhnen, und Wallander wußte, daß er ihn nicht noch einmal bewußtlos schlagen könnte. Er folgte dem Flur, der vom Aufzug wegführte, nach links und hoffte, bald auf einen Ausgang zu stoßen.
|319| Wieder hatte er Glück. Er gelangte in eine der Kantinen, und es gelang ihm, in der Küche eine Tür aufzubekommen, die wohl ein schlampig verschlossener Lieferanteneingang war. Er kam auf die Straße hinaus, seine Hand schmerzte und war bereits angeschwollen.
Der erste mit Baiba verabredete Zeitpunkt für ein Treffen war halb eins. Wallander hatte sich wartend in den Schatten der Kirche im Esplanadepark gestellt, die in ein Planetarium umgewandelt worden und von hohen, kahlen Linden umgeben war. Aber Baiba war nicht gekommen. Die Schmerzen in seiner Hand waren immer unerträglicher geworden. Als es Viertel nach eins war, wußte er, daß etwas passiert sein mußte. Sie würde nicht kommen. Er machte sich große Sorgen, Ineses zerschossenes Gesicht tauchte wieder vor seinem inneren Auge auf, und er rätselte, was geschehen sein konnte. Hatten die Hunde und ihr Anführer begriffen, daß Wallander unbemerkt aus der Universität geflohen war? Was hatten sie in diesem Fall mit Baiba gemacht? Er wagte es nicht, diesen Gedanken zu Ende zu führen. Er verließ den Park, ohne zu wissen, wohin er gehen sollte. Im Grunde war es der Schmerz in seiner Hand, der ihn weiter durch die nächtlich leeren Straßen trieb. Ein Militärjeep mit eingeschalteter Sirene zwang ihn, sich der Länge nach in den nächsten Hauseingang zu werfen, und kurz darauf fuhr ein Streifenwagen langsam durch die Straße, und er mußte nochmals Schutz im Schatten suchen. Die Mappe mit dem Testament des Majors hatte er sich unter sein Hemd geschoben. Die Kanten scheuerten gegen seine Rippen, und er fragte sich, wo er die Nacht verbringen sollte. Die Temperaturen waren gesunken, und er fror so sehr, daß er am ganzen Leib zitterte. Der zweite Treffpunkt, auf den Baiba und er sich geeinigt hatten, befand sich im vierten Stock des Zentralen Kaufhauses. Da dieses Treffen erst für zehn Uhr am nächsten Morgen angesetzt war, hatte er mehr als sieben Stunden Zeit, die er unmöglich auf der Straße verbringen konnte. Er wußte, daß er wegen seiner Hand eigentlich in ein |320| Krankenhaus mußte. Er war davon überzeugt, daß er sich etwas gebrochen hatte. Aber ein solches Risiko konnte er nicht eingehen. Nicht jetzt, da er das Testament bei sich trug. Einen Moment lang überlegte er wieder, Schutz in der schwedischen Vertretung zu suchen, wenn es denn eine gab. Aber auch dieser Gedanke war nicht sehr beruhigend. Vielleicht wurde ein schwedischer Polizist, der sich illegal in einem anderen Land aufhielt, unmittelbar und unter Bewachung außer Landes gebracht? Er wußte es nicht, und er wollte kein Risiko eingehen.
Verängstigt beschloß er, zu dem Auto zu gehen, das ihm nun zwei Tage lang gedient hatte. Aber als er zu der Stelle kam, an der sie es geparkt hatten, war es verschwunden. Einen Moment lang dachte er, die Schmerzen hätten sein Erinnerungsvermögen benebelt. Hatten sie den Wagen wirklich hier abgestellt? Aber dann war er sich sicher und dachte, daß das Auto jetzt wahrscheinlich schon zerlegt und in Stücke geteilt war wie ein geschlachtetes Stück Vieh. Der Oberst, der ihn verfolgte, hatte sich bestimmt schon vergewissert, daß die Unterlagen des Majors nicht in einem der Hohlräume des Wagens verborgen lagen.
Wo sollte er die Nacht verbringen? Plötzlich überkam ihn ein Gefühl der Ohnmacht, weil er sich tief
Weitere Kostenlose Bücher