Wallander 02 - Hunde von Riga
Personenbeschreibung wir uns noch einfallen lassen müssen. Wir haben also genau eine Stunde Zeit.«
Mikelis bestätigte, was Wallander insgeheim schon befürchtet hatte, daß das Archiv riesig sei. Er würde nicht einmal die Zeit haben, auch nur einen Bruchteil aller Regale und Register in den Räumen im Fels unter dem Polizeihauptquartier |312| systematisch zu durchsuchen. Wenn Baibas Annahme, daß Karlis sein Testament in der Nähe ihrer eigenen Akte versteckt hatte, falsch war, würde alles verloren sein.
Mikelis zeichnete eine Karte für Wallander. Drei verschlossene Türen würde Wallander auf dem Weg zum Archiv passieren müssen. Mikelis würde ihm die dazu nötigen Schlüssel mitgeben. Zuunterst im Kellergewölbe, vor der letzten Tür, würde dann eine Wache stehen. Genau um halb elf würde Mikelis diese durch ein Telefonat weglocken. Eine Stunde später, um halb zwölf, würde Mikelis selbst in den Keller hinunterkommen und die Wache wegen irgendeiner frei erfundenen Angelegenheit mitnehmen. Dann mußte Wallander das Archiv verlassen. Von da an mußte er ohne ihn zurechtkommen. Wenn er einen der diensthabenden Polizeibeamten in den Fluren traf und dieser mißtrauisch wurde, würde er gezwungen sein, allein mit der Situation fertig zu werden.
Konnte er Mikelis vertrauen?
Wallander dachte, daß die Antwort unerheblich war. Er mußte ihm ganz einfach vertrauen. Es gab keinen anderen Ausweg. Er wußte noch, was Baiba dem jungen Sergeanten auf seine Anweisung hin gesagt hatte. Aber er hatte keine Ahnung, was sie ihm sonst noch gesagt hatte. Dabei hatte genau das Mikelis davon überzeugt, daß er Wallander helfen mußte, in das Archiv hineinzukommen. Wie er es auch drehte und wendete, so blieb er doch ein Fremder in dem Spiel, das um ihn herum gespielt wurde.
Nach einer halben Stunde verließ Mikelis den Raum, um eine Streife loszuschicken, die nach mehreren Personen suchen sollte, die mit dem Überfall auf den englischen Touristen Stevens zu tun haben konnten. Der Name war Wallanders Vorschlag gewesen. Weshalb er gerade auf diesen kam, wußte er nicht. Mikelis hatte Personenbeschreibungen konstruiert, die auf einen Großteil der Einwohner Rigas zutreffen konnten. Wallander hatte gedacht, daß diese Personenbeschreibungen an Mikelis selbst erinnerten. Es werde angenommen, daß |313| der Überfall in der Nähe der Esplanade geschehen war, aber Herr Stevens sei bis auf weiteres zu mitgenommen, um den Streifenwagen zu begleiten und den genauen Tatort zu bestimmen. Als Mikelis zurückkam, gingen sie noch einmal die Wegbeschreibung zum Archiv durch. Wallander wurde klar, daß er an dem Flur der Obersten vorbeikommen würde, auf dem auch er sein Arbeitszimmer gehabt hatte. Unwillkürlich schreckte er vor dem Gedanken zurück. Auch wenn einer von ihnen auf seinem Zimmer ist, dachte er, kann ich nicht wissen, ob er nicht Sergeant Zids den Befehl gab, Inese und ihre Freunde zu ermorden. War es Putnis oder Murniers? Wer von ihnen läßt seine Hunde von der Leine, um Menschen zu jagen, die nach dem Testament des Majors suchen?
Als die Zeit für den Wachwechsel gekommen war, merkte Wallander, daß die Nervenanspannung seine Verdauung durcheinander gebracht hatte. Er hätte eigentlich auf die Toilette gemußt, aber dafür blieb keine Zeit. Mikelis öffnete die Tür zum Flur einen Spalt, sah hinaus und sagte Wallander dann, daß er gehen könnte. Wallander hatte versucht, die Wegbeschreibung auswendig zu lernen. Er wußte, daß er sich nicht verlaufen durfte. Sonst würde die kurze Zeit, in der Mikelis’ Telefonanruf die Wache weglockte, schon wieder verstrichen sein. Das Polizeihauptquartier war wie ausgestorben. Er eilte, so lautlos es eben ging, durch die langen Flure, immer darauf vorbereitet, daß eine Tür aufgestoßen und eine Waffe auf ihn gerichtet würde. Er zählte die Treppen, hörte das Echo von Schritten aus einem weit entfernten Flur und dachte, daß er sich inmitten eines Labyrinths befand, in dem man sehr leicht für immer verschwinden konnte. Dann begann er, Treppen hinabzusteigen und fragte sich, wie tief unter der Erdoberfläche das Archiv eigentlich lag. Schließlich kam er in die Nähe des Wachpostens. In wenigen Minuten würde Mikelis anrufen. Er stand völlig regungslos und lauschte. Es war kein Geräusch zu hören, und das beunruhigte ihn. Hatte er sich doch noch verirrt?
|314| Das schrille Klingeln des Telefons durchschnitt plötzlich die Stille, und er atmete auf. Wallander hörte Schritte im
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