Wallander 02 - Hunde von Riga
führen würde, vorbereiten konnte.
Im Wald fror er, der Boden unter seinen Füßen war steinhart, und er dachte, daß die ganze Situation einfach unmöglich war.
Wir leben in einer Zeit, in der die Mäuse die Katze jagen, überlegte er. Aber auch das ist nicht wahr, denn keiner weiß mehr, wer Maus und wer Katze ist. Wie soll man Polizist sein können, in einer Zeit, in der nichts mehr ist, was es zu sein scheint, in der nichts mehr gültig ist. Nicht einmal Schweden, das Land, das ich einmal zu verstehen glaubte, macht da eine |232| Ausnahme. Vor einem Jahr fuhr ich völlig betrunken Auto. Aber es hatte keine Folgen, weil meine Kollegen sich schützend vor mich stellten. Auch dort schüttelt also der Straftäter seinem Jäger die Hand.
Als er durch den Tannenwald ging, und Sergeant Zids irgendwo hinter ihm in dem schwarzen Wagen auf ihn wartete, nahm er sich vor, sich als Sicherheitschef bei der Gummifabrik in Trelleborg zu bewerben. Er hatte jetzt einen Punkt erreicht, an dem der Entschluß sich wie von selbst ergab. Ohne Selbstüberwindung, ohne Zögern sah er ein, daß es Zeit für einen Neuanfang war.
Der Gedanke stimmte ihn gutgelaunt, und er kehrte zum Wagen zurück. Sie fuhren wieder nach Riga. Er verabschiedete sich von dem Sergeant und ging zur Rezeption, um seinen Schlüssel zu holen. Dort erwartete ihn eine Nachricht von Oberst Putnis, der ihm mitteilte, daß sein Flug nach Helsinki am nächsten Morgen um halb zehn abgehen würde. Er ging auf sein Zimmer hinauf, badete in lauwarmem Wasser und legte sich ins Bett. Er hatte noch drei Stunden, bis er seine angebliche Geliebte treffen würde, und ließ noch einmal alles Revue passieren. In seinen Gedanken begleitete er den Major und meinte, das Ausmaß von Karlis Liepas Haß erahnen zu können. Den Haß und die Ohnmacht, Zugang zu einer Beweiskette zu haben und doch nichts unternehmen zu können. Er hatte direkt in das finstere Herz der Korruption geschaut, in dem Putnis oder Murniers oder vielleicht auch beide Verbrecher trafen und aushandelten, was nicht einmal der Mafia gelungen war: eine staatlich kontrollierte, kriminelle Organisation. Er hatte gesehen, und er hatte zuviel gesehen, und er war ermordet worden. Übriggeblieben war irgendwo sein Testament, seine Ermittlung und seine Beweissammlung.
Wallander setzte sich plötzlich im Bett auf.
Er hatte die schwerwiegende Konsequenz dieses Testaments übersehen. Die Schlußfolgerung, die er selbst gezogen hatte, konnte Putnis oder Murniers nicht entgangen sein. Sie waren |233| natürlich zum gleichen Schluß gelangt, und es war ihnen genausoviel daran gelegen, die Beweise, die Major Liepa versteckt haben mußte, aufzuspüren.
Plötzlich kehrte die Angst zurück. Wallander wurde klar, daß in diesem Land nichts einfacher sein konnte, als einen schwedischen Polizeibeamten verschwinden zu lassen. Ein Unfall ließ sich arrangieren, eine Ermittlung wäre ein bloßes Spiel mit Worten, und ein Zinksarg würde mit einer Beileidsbekundung nach Schweden geschickt werden.
Vielleicht verdächtigten sie ihn schon, zuviel zu wissen?
Oder ließ die plötzliche Entscheidung, ihn sofort nach Hause zu schicken, darauf schließen, daß sie ihn für ahnungslos hielten?
Es gibt niemanden, dem ich vertrauen kann, dachte Wallander. Ich bin hier völlig allein, und ich muß mich wie Baiba Liepa verhalten. Mich entscheiden, wem ich vertrauen kann, das Risiko einer Fehleinschätzung auf mich nehmen. Aber ich bin völlig allein, und um mich herum wachen Augen und Ohren, die mich ohne zu zögern auf die gleiche Reise schicken würden wie den Major.
Vielleicht mußte er sogar einsehen, daß ein weiteres Treffen mit Baiba Liepa zu riskant war?
Er stand auf, stellte sich ans Fenster und sah über die Dächer hinweg. Es war dunkel geworden, es war fast sieben, und er wußte, daß er sich sofort entscheiden mußte.
Ich bin kein besonders mutiger Mann, dachte er. Ich bin beim besten Willen kein Polizist, der voller Todesverachtung vor keinem Risiko zurückschreckt. Am liebsten würde ich unblutige Einbrüche und Betrügereien in irgendeinem verschlafenen Teil Schwedens aufklären.
Dann dachte er an Baiba Liepa, ihre Angst und ihren Trotz, und wußte, daß er sich nicht mehr in die Augen sehen könnte, wenn er nun einen Rückzieher machte.
Er zog seinen Anzug an und ging kurz nach acht in den Nachtclub hinab. Ein anderer graugekleideter Mann mit einer |234| neuen Zeitung saß im Foyer. Diesmal verkniff Wallander es sich, ihm
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