Wallander 02 - Hunde von Riga
werden kann. Denn ihr hat er vertraut, sie war in einer Welt, in der alle anderen gefallene Engel waren, der Schutzengel des Majors.
Sergeant Zids hielt an einem alten Stadttor, und Wallander kletterte aus dem Wagen, weil er annahm, daß es sich um das Schwedentor handelte, von dem Oberst Putnis’ Frau gesprochen hatte. Er zitterte und dachte, daß es wieder kälter geworden war. Geistesabwesend betrachtete er die brüchige Ziegelmauer und versuchte einige altertümliche Zeichen, die in den Stein gehauen waren, zu deuten. Aber er gab sofort wieder auf und kehrte zum Wagen zurück.
»Sollen wir weitermachen?« fragte der Sergeant.
»Ja«, sagte Wallander. »Ich will alles Sehenswerte besichtigen.«
Er hatte begriffen, daß Zids gerne Auto fuhr. Und in der Einsamkeit des Rücksitzes zog er, trotz der Kälte, trotz der flackernden Augen des Sergeants im Rückspiegel, doch das Auto seinem Hotelzimmer vor. Er dachte an den kommenden |230| Abend und daran, daß nichts seine Begegnung mit Baiba Liepa verhindern durfte. Einen Moment lang überlegte er, ob es vielleicht besser wäre, sie sofort zu erreichen, sie in der Universität aufzusuchen, um ihr in einem verlassenen Korridor mitzuteilen, was er nun endlich begriffen hatte. Aber er wußte nicht, welches Fach sie unterrichtete, er wußte nicht einmal, ob es nur die eine Universität gab.
Noch eine Erkenntnis reifte in ihm heran. Die wenigen Begegnungen mit Baiba Liepa, so flüchtig sie auch gewesen waren, so traurig ihr Anlaß war, hatten ihm nicht nur die Augen über die Hintergründe eines Mordes geöffnet, sie hatten auch ein unbekanntes Gefühl in ihm geweckt. Ein Gefühl, stärker als alle anderen. Das beunruhigte ihn, und er konnte seinen wütenden Vater hören, den Widerhall seiner Stimme, über den verlorenen Sohn klagend, der nicht nur Polizist geworden, sondern auch noch dumm genug war, sich in die Witwe eines ermordeten lettischen Polizeioffiziers zu verlieben.
War es wirklich so? Hatte er sich in Baiba Liepa verliebt?
Als besäße Sergeant Zids die beneidenswerte Fähigkeit, Gedanken zu lesen, zeigte er mit ausgestrecktem Arm auf einen langgezogenen und häßlichen Ziegelbau und erläuterte, daß er zu Rigas Universität gehöre. Wallander betrachtete durch das beschlagene Fenster den düsteren Gebäudekomplex und dachte, daß Baiba Liepa vielleicht irgendwo in diesem gefängnisähnlichen Haus war. Alle offiziellen Gebäude in diesem Land glichen Gefängnissen, und die Menschen in ihnen waren wie Gefangene. Aber nicht so der Major, nicht Upitis – auch wenn er nun ein Gefangener war und dies kein Alptraum, sondern Realität. Auf einmal hatte Wallander genug davon, mit dem Sergeant herumzufahren, und bat ihn, zum Hotel zurückzukehren. Ohne zu wissen warum, fragte er ihn, ob er gegen zwei Uhr nachmittags wiederkommen könne.
An der Rezeption entdeckte er augenblicklich einen jener graugekleideten Männer, deren Aufgabe es war, ihn zu überwachen, |231| und er dachte, daß die Obersten es nicht mehr nötig hatten, den Schein zu wahren. Er ging in den Speisesaal und setzte sich demonstrativ an einen anderen als seinen angestammten Tisch, obwohl der Kellner unglücklich darüber zu sein schien. Allein mein Aufbegehren gegen die staatliche Tischzuteilung erzeugt einen ungeheuren Aufruhr, dachte er. Er ließ sich auf einen Stuhl fallen, bestellte Bier und Schnaps und merkte, daß er wieder einmal einen Furunkel an der einen Pobacke bekam, und wurde noch wütender. Über zwei Stunden lang saß er im Speisesaal, und wenn seine Gläser geleert waren, winkte er den Kellner zu sich und bestellte eine neue Runde. Während er immer betrunkener wurde, sprangen seine Gedanken ziellos hin und her, und in einer sentimentalen Anwandlung stellte er sich vor, Baiba Liepa würde ihn auf seiner Heimreise nach Schweden begleiten. Als er den Speisesaal verließ, konnte er es nicht lassen, dem graugekleideten Mann, der wachend auf seinem Sofa saß, zuzuwinken. Er ging auf sein Zimmer hinauf, legte sich auf sein Bett und schlief ein. Viel später hämmerte jemand an eine Tür in seinem Kopf. Aber es war gar nicht in seinem Kopf, es war der Sergeant, der auf dem Flur stand und anklopfte. Wallander sprang vom Bett auf, rief ihm zu, er solle warten, und wusch sich das Gesicht mit kaltem Wasser. Dann bat er Zids, ihn aus der Stadt zu fahren, in irgendeinen Wald, wo er einen Spaziergang machen und sich auf die Begegnung mit seiner angeblichen Geliebten, die ihn zu Baiba Liepa
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