Wallander 02 - Hunde von Riga
aus schmutzigen Fabrikanlagen und Mietskasernen. Wallander war sich nicht sicher, ob er das Haus wiedererkannte, als sie bremste und den Motor ausmachte.
»Beeil dich«, sagte sie. »Die Zeit ist knapp.«
Baiba Liepa ließ sie hinein. Sie wechselte kurz ein paar Worte mit Inese. Wallander fragte sich, ob sie erfahren hatte, daß er Riga am nächsten Tag verlassen würde. Aber sie ließ sich nichts anmerken, nahm ihm nur seine Jacke ab und legte sie über eine Stuhllehne. Inese war fort, und sie waren wieder allein in dem stillen Raum mit den schweren Gardinen. Wallander hatte keine Ahnung, wie er anfangen sollte oder was er überhaupt sagen sollte. Deshalb hielt er sich an Rydberg: Sag, wie es ist. Schlimmes kann doch nicht noch schlimmer werden, also sag einfach, wie es ist!
Sie krümmte sich auf dem Sofa zusammen, als hätte ein plötzlicher Schmerz sie durchbohrt, als er erzählte, daß Upitis den Mord an ihrem Mann gestanden hatte.
»Das ist nicht wahr«, flüsterte sie.
»Man hat mir sein Geständnis übersetzt«, sagte Wallander. »Er soll zwei Mittäter gehabt haben.«
»Das ist nicht wahr!« schrie sie, und es war, als habe ein Fluß endlich einen Damm durchbrochen. Inese tauchte im Schatten der Tür auf, die wohl in die Küche führte, und sah Wallander an. Plötzlich wußte er, was er zu tun hatte. Er setzte sich zu ihr auf das Sofa und hielt Baiba Liepa, die von Weinkrämpfen |237| geschüttelt wurde, fest in seinen Armen. Sie mochte weinen, dachte Wallander kurz, weil Upitis’ Verrat so unglaublich war, daß er jegliches Fassungsvermögen überstieg. Sie mochte aber auch weinen, weil sie die Wahrheit hinter dem erlogenen, erzwungenen Geständnis erkannte. Sie weinte besinnungslos und hielt sich an ihm fest, als wollte sie sich nie beruhigen.
Später würde er denken, daß er in diesen Augenblicken endgültig die unsichtbare Grenze überschritten und sich seine Liebe zu Baiba Liepa eingestanden hatte. Ihm wurde bewußt, daß er sie liebte, weil sie ihn brauchte. Einen Moment lang fragte er sich, ob er jemals in seinem Leben etwas Ähnliches gefühlt hatte.
Inese kam mit zwei Tassen Tee. Sie strich Baiba Liepa sanft übers Haar, und kurz darauf hörte sie auf zu weinen. Ihr Gesicht war grau.
Wallander erzählte, was geschehen war, und daß er nach Schweden heimkehren mußte. Er erzählte ihr die ganze Geschichte so, wie er sie sich zusammengereimt hatte, und wunderte sich darüber, wie überzeugend er sie vorbringen konnte. Schließlich sprach er von dem Vermächtnis, das es irgendwo geben mußte, und sie verstand und nickte.
»Ja«, sagte sie. »Er muß etwas versteckt haben. Er muß Aufzeichnungen gemacht haben. Ein Testament kann niemals nur aus ungeschriebenen Gedanken bestehen.«
»Aber du weißt nicht, wo?«
»Er hat nie etwas gesagt.«
»Gibt es jemand anderen, der etwas wissen könnte?«
»Niemand. Er vertraute nur mir.«
»Wohnt sein Vater nicht in Ventspils?«
Sie sah ihn erstaunt an.
»Ich habe das recherchiert«, sagte er. »Ich dachte, es könnte eine Möglichkeit sein.«
»Er liebte seinen Vater sehr«, antwortete sie. »Aber er hätte ihm niemals geheime Dokumente anvertraut.«
|238| »Wo kann er sie versteckt oder hinterlegt haben?«
»Nicht bei uns zu Hause. Das wäre zu gefährlich gewesen. Die Polizei hätte das ganze Haus abreißen lassen können, wenn sie geglaubt hätte, daß es dort etwas gäbe.«
»Denk nach«, sagte Wallander. »Geh weiter in die Vergangenheit zurück, denk nach. Wo kann er sie versteckt haben?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Ich weiß es nicht«, sagte sie.
»Er muß damit gerechnet haben, daß ihm etwas zustoßen könnte. Er muß davon ausgegangen sein, daß du verstehen würdest, daß es Beweise gibt, die auf dich warten. Und sie müssen irgendwo liegen, wo nur du sie vermuten kannst.«
Plötzlich ergriff sie seine Hand.
»Du mußt mir helfen«, sagte sie. »Du darfst nicht abreisen.«
»Ich kann unmöglich bleiben«, antwortete er. »Die beiden Obersten würden keine Erklärung akzeptieren, warum ich nicht nach Schweden zurückkehre. Und wie sollte ich mich in Lettland aufhalten können, ohne daß sie es herausfinden?«
»Du könntest zurückkommen«, sagte sie und ließ seine Hand dabei nicht los. »Du hast doch eine Geliebte hier. Du kannst als Tourist kommen.«
Aber ich liebe doch dich, dachte er. Nicht Inese, die meine Geliebte spielt.
»Du hast doch eine Geliebte hier«, wiederholte sie.
Er nickte. Natürlich hatte er eine
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