Wallander 03 - Die weisse Löwin
sie gelesen hatte, seit sie vor einigen Tagen mit der Post gekommen war. Der Vater würde seine Haushaltshilfe am Tag vor der Mittsommernacht heiraten. Bis dahin waren es noch zehn Tage. Er hatte mehrmals mit seiner Schwester Kristina gesprochen, die der Meinung war, während eines kurzen Besuchs vor einigen Wochen, mitten im schlimmsten Chaos, das Ganze verhindert zu haben. Jetzt zweifelte Wallander nicht mehr daran, daß die Hochzeit stattfinden würde. Er konnte auch nicht leugnen, daß sein Vater besser gelaunt war, als er ihn je erlebt hatte, wie intensiv er auch zurückdachte. Im Atelier, wo die Trauung stattfinden sollte, hatte er eine gigantische Kulisse gemalt. Zu Wallanders Erstaunen handelte es sich um exakt dasselbe Motiv, das er sein ganzes Leben lang gewählt hatte, die romantisch-reglose Waldlandschaft. Der Unterschied bestand lediglich darin, daß sie nun ins Großformat übertragen worden war. Wallander hatte sich auch mit Gertrud unterhalten, der Braut. Sie hatte um das Gespräch gebeten, und ihm war klargeworden, daß sie seinen Vater aufrichtig mochte. Gerührt hatte er ihr versichert, daß er sich mit ihnen freue.
|518| Seine Tochter war nach Stockholm zurückgefahren, vor mehr als einer Woche. Zur Hochzeit würde sie wieder hier sein und dann direkt nach Italien weiterreisen. Das hatte Wallander die eigene Einsamkeit erschreckend deutlich werden lassen. Wohin er sich auch wandte, von allen Seiten fühlte er sich verlassen. Am Abend nach Konovalenkos Tod hatte er Sten Widén besucht und fast seinen gesamten Whiskyvorrat ausgetrunken. Er war schwer im Rausch gewesen und hatte begonnen, über die Hoffnungslosigkeit zu sprechen, die ihn bedrückte. Er glaubte, daß Sten Widén dieses Gefühl teilte, auch wenn er seine Pferdepflegerinnen hatte, mit denen er auch ins Bett ging und die ihm vielleicht einen Hauch von Gemeinschaft suggerierten. Wallander hoffte, daß der wiederentstandene Kontakt zu Sten Widén sich als dauerhaft erweisen würde. Er hegte keine Illusionen, daß es wieder so werden könnte wie in ihrer Jugend. Das war für immer vorbei, nicht wiederholbar.
Durch ein Klopfen an der Tür wurde er in seinen Gedanken unterbrochen. Er zuckte zusammen. In der letzten Woche im Polizeigebäude war ihm aufgefallen, daß er Menschen scheute.
Die Tür ging auf, Svedberg steckte den Kopf herein und fragte, ob er stören dürfe. »Ich habe gehört, daß du uns für eine Zeit verlassen wirst«, begann er.
Wallander hatte sofort einen Kloß im Hals. »Es muß sein«, murmelte er und schneuzte sich.
Svedberg merkte, daß es ihm an die Nieren ging. Er wechselte sofort das Thema. »Erinnerst du dich an die Handschellen, die du zu Hause bei Louise Åkerblom in einer Schublade gefunden hast?« fragte er. »Du hast sie nur beiläufig erwähnt. Erinnerst du dich?«
Wallander nickte. Für ihn hatten die Handschellen die rätselhaften Seiten repräsentiert, die jeder Mensch aufwies. Erst am Tag zuvor hatte er darüber nachgedacht, welche unsichtbaren Handschellen er eigentlich mit sich herumschleppte.
»Gestern habe ich zu Hause eine Kammer aufgeräumt«, fuhr Svedberg fort. »Da lag ein Haufen alter Zeitschriften, die ich aussortieren wollte. Aber du weißt ja, wie das ist, ich blieb sitzen. Irgendwie geriet ich an einen Artikel über Varietékünstler der |519| letzten dreißig Jahre. Da war das Bild eines Ausbrecherkönigs, der sich als Artist bezeichnenderweise »Houdinis Sohn« nannte. Er hieß eigentlich Davidsson und hat irgendwann aufgehört, aus verschiedenen Körperfesseln und Blechschranken zu schlüpfen. Weißt du, warum er seinen Beruf aufgab?«
Wallander schüttelte den Kopf.
»Er wurde bekehrt. Er trat einer freikirchlichen Gemeinde bei. Rate mal, welcher!«
»Der Methodistenkirche«, sagte Wallander nachdenklich.
»Genau. Ich habe mir den ganzen Artikel durchgelesen. Da stand ganz am Schluß, daß er glücklich verheiratet war und viele Kinder hatte. Unter anderem eine Tochter namens Louise, später verheiratete Åkerblom.«
»Die Handschellen«, seufzte Wallander.
»Eine Erinnerung an ihren Vater«, bestätigte Svedberg. »Ich weiß ja nicht, was du gedacht hast. Ich muß leider zugeben, daß mir eine ganze Menge nicht jugendfreier Gedanken durch den Kopf ging.«
»Bei mir war es genauso«, sagte Wallander.
Svedberg erhob sich. An der Tür blieb er stehen und drehte sich um. »Da war noch eine Sache«, sagte er. »Erinnerst du dich an Peter Hanson?«
»Den Dieb?«
»Ja, den
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