Wallander 03 - Die weisse Löwin
Polizei also gar nicht, daß Victor Mabasha tot war und daß vermutlich ein anderer seinen Platz eingenommen hatte.
Außerdem war anzunehmen, daß das Attentat für den 12. Juni geplant war, denn Sikosi Tsiki hatte Jörgensen erzählt, wann er spätestens wieder heimreisen wollte.
Wallander überschaute die Konsequenzen sofort.
Die südafrikanische Polizei hatte fast zwei Wochen lang einen Toten gejagt.
Heute war Donnerstag, der 11. Juni. Das Attentat würde wahrscheinlich am 12. Juni verübt werden.
Morgen.
»Wie zum Teufel konnte das passieren?« brüllte er. »Warum habt ihr nur die Hälfte meines Faxes abgeschickt?«
»Ich habe keine Ahnung. Da müssen Sie mit dem sprechen, der an diesem Tag Dienst hatte.«
»Ein andermal«, sagte Wallander. »In Kürze werde ich Ihnen ein neues Fax senden. Und das muß unverzüglich nach Johannesburg weitergeleitet werden.«
»Wird gemacht.«
Wallander legte auf. Wie konnte das nur passieren? dachte er wieder.
Er vergeudete keine Zeit damit, nach einer Antwort zu suchen. Statt dessen spannte er ein Blatt Papier in die Schreibmaschine und formulierte eine kurze Mitteilung. »Victor Mabasha ist nicht mehr aktuell. Dafür ein Mann namens Sikosi Tsiki. Dreißig Jahre alt, gut gewachsen (hier mußte er sein Wörterbuch zu Hilfe nehmen; er entschied sich für
well proportioned
), keine besonderen Kennzeichen. Diese Information ersetzt frühere. Ich wiederhole. Victor Mabasha nicht mehr aktuell. Sikosi Tsiki vermutlich |525| Ersatzmann. Fotografie liegt uns nicht vor. Um Fingerabdrücke wird gebeten.«
Er unterzeichnete mit seinem Namen und ging zur Anmeldung. »Das hier muß sofort an Interpol Stockholm geschickt werden«, sagte er zu der Diensthabenden, die er nicht kannte.
Er blieb stehen und sah zu, wie die Nachricht per Fax übermittelt wurde. Dann kehrte er in sein Zimmer zurück. Vermutlich ist es zu spät, dachte er.
Wäre er noch im Dienst gewesen, hätte er sofort Aufklärung darüber verlangt, wer dafür verantwortlich war, daß nur die Hälfte seines Faxes abgeschickt worden war. So aber konnte das noch warten. Er mochte sich nicht damit befassen.
Er fuhr fort, Papierstapel durchzusehen. Es war fast ein Uhr, als er endlich damit fertig wurde. Der Schreibtisch war leer. Er verschloß seine privaten Fächer und stand auf. Ohne sich noch einmal umzudrehen, verließ er das Zimmer und machte die Tür zu. Im Korridor traf er niemanden und konnte das Polizeigebäude verlassen, ohne von jemand anderem als der Diensthabenden an der Anmeldung gesehen zu werden.
Jetzt hatte er nur noch ein Ziel. Wenn erledigt war, was er sich vorgenommen hatte, war sein innerer Terminkalender leer.
Er lief den Hügel hinunter, kam am Krankenhaus vorbei und wandte sich nach links. Die ganze Zeit hatte er den Eindruck, daß ihn die Leute anstarrten. Er versuchte, sich so unsichtbar wie möglich zu machen. Als er zum Marktplatz kam, ging er in das Geschäft des Optikers und kaufte eine Sonnenbrille. Dann führte ihn sein Weg die Hamngata hinunter, er kreuzte Österleden und war bald im Hafenviertel. Dort gab es ein Café, das im Sommer geöffnet hatte. Vor ungefähr einem Jahr hatte er dort gesessen und einen Brief an Baiba Liepa in Riga geschrieben. Diesen Brief hatte er jedoch nie abgeschickt. Er war zum Pier hinausgegangen, hatte ihn zerrissen und die Schnipsel ins Hafenbecken flattern lassen. Nun wollte er einen neuen Versuch wagen, ihr zu schreiben, und er hatte sich vorgenommen, den Brief diesmal auch abzusenden. In der Innentasche seiner Jacke trug er Papier und ein Kuvert. Er setzte sich an einen Ecktisch, wo es windstill war, bestellte Kaffee und dachte an die Zeit vor einem Jahr. Auch |526| damals war er in schlechter Stimmung gewesen. Aber mit der Situation, in der er sich jetzt befand, war es nicht vergleichbar. Weil er nicht wußte, was er schreiben sollte, begann er aufs Geratewohl. Er schilderte das Café, in dem er saß, das Wetter, das weiße Fischerboot mit den hellgrünen Netzen, das in der Nähe lag. Er versuchte, den Geruch des Meeres zu beschreiben. Dann begann er darzulegen, wie er sich fühlte. Es fiel ihm schwer, die richtigen englischen Worte zu finden, aber er tastete sich voran. Er verriet, daß er auf unbestimmte Zeit krank geschrieben war und nicht wußte, ob er jemals in den Dienst zurückkehren würde. »Vielleicht habe ich gerade meinen letzten Fall abgeschlossen«, schrieb er. »Und den habe ich schlecht aufgeklärt, eigentlich überhaupt nicht.
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