Wallander 03 - Die weisse Löwin
schrieb und ihm eine Kombination aus Gesprächstherapie und Medikamenten verordnete, war keineswegs geneigt, am Ernst der Situation zu zweifeln. Wallander hatte innerhalb kurzer Zeit einen Menschen getötet und aktiv dazu beigetragen, daß ein anderer bei lebendigem Leibe verbrannt war. Auch die Verantwortung für die Frau, die ihr Leben geopfert hatte, als sie seiner Tochter zur Flucht verhalf, konnte er nicht von sich weisen. Am meisten jedoch fühlte er sich schuldig, weil Victor Mabasha getötet worden war. Daß die Reaktion in direktem Zusammenhang mit dem Tod Konovalenkos erfolgte, war natürlich. Nun war niemand mehr zu jagen, und auch ihn jagte niemand mehr. Das Auftreten der Depression deutete paradoxerweise darauf hin, daß Wallander eine Last losgeworden war. Jetzt würde er vor sich selbst Rechenschaft ablegen, und dabei durchbrach die Schwermut alle bisherigen Dämme. Nach einigen Monaten begannen viele seiner Kollegen zu glauben, daß er nie wiederkommen würde. Dann und wann, wenn im Polizeigebäude von Ystad neue Berichte über seine sonderbaren Reisen kreuz und quer durch Dänemark und bis in die Karibik bekannt wurden, fragte man sich, ob Wallander nicht vorzeitig pensioniert werden müßte. Der Gedanke weckte großen Unmut.
|516| Aber so weit kam es nicht. Er würde zurückkehren, wenn es auch lange dauern sollte.
Aber noch saß er in seinem Büro, am Tag, nachdem er krank geschrieben worden war, einem warmen, windstillen Sommertag in Südschonen. Er hatte immer noch eine Menge Schreibkram zu erledigen, bevor er seinen Tisch aufräumen und verlassen konnte, um zu versuchen, mit seiner Niedergeschlagenheit fertig zu werden. Er spürte eine bohrende Ungewißheit und fragte sich, wann er eigentlich würde zurückkehren können.
Er war schon um sechs Uhr früh an seinem Arbeitsplatz gewesen, nachdem er eine schlaflose Nacht in seiner Wohnung verbracht hatte. In den ruhigen Morgenstunden war er endlich mit dem ausführlichen Bericht über den Mord an Louise Åkerblom und die folgenden Ereignisse fertig geworden. Er hatte sich das Geschriebene noch einmal durchgelesen und sich dabei gefühlt, als steige er erneut in die Unterwelt hinunter, als müsse er die Reise wiederholen, die er am liebsten nie angetreten hätte. Er würde außerdem einen Bericht abliefern, der zu einem gewissen Teil aus Lügen bestand. Es war immer noch ein Rätsel für ihn, daß niemand hinter sein seltsames Verschwinden und die geheime Beziehung zu Victor Mabasha gekommen war. Seine äußerst konstruierten und zum Teil direkt widersprüchlichen Erklärungen in bezug auf sein merkwürdiges Verhalten hatten nicht, wie von ihm erwartet, offenes Mißtrauen geweckt. Schließlich nahm er an, daß dies mit dem Mitleid zusammenhing, das ihn umgab, gemischt mit einer Art Korpsgeist, weil er einen Menschen getötet hatte.
Er legte den dicken Aktenordner mit dem Ermittlungsbericht auf den Schreibtisch und öffnete das Fenster. Irgendwo weit weg hörte er Kinder lachen.
Und wie sieht mein eigenes Resümee aus? überlegte er. Ich bin in einer Situation gelandet, die ich nicht beherrschte. Ich habe alle Fehler gemacht, die ein Polizist machen kann, und am schlimmsten war, daß ich das Leben meiner eigenen Tochter aufs Spiel gesetzt habe. Sie beteuert, daß sie mich nicht für den schrecklichen Tag verantwortlich macht, den sie angekettet in einem Keller verbringen mußte. Aber habe ich eigentlich das |517| Recht, ihr zu glauben? Habe ich ihr nicht ein Leid zugefügt, das sich vielleicht erst in Zukunft in Angstvorstellungen, Alpträumen und einem reduzierten Leben äußern wird? An dieser Stelle muß ich doch mit dem wahren Bericht anfangen, den ich nie zu Papier bringen werde. Der heute damit endet, daß mich ein Arzt auf unbestimmte Zeit krank geschrieben hat, weil ich wie zerschlagen bin.
Er ging zu seinem Schreibtisch zurück und ließ sich schwer auf den Stuhl fallen. Er hatte in der Nacht nicht geschlafen, das war wahr, aber seine Müdigkeit hatte andere Ursachen, kam aus der Tiefe seiner Depression. War die Müdigkeit vielleicht mit der Schwermut identisch? Er dachte an das, was nun folgen würde. Der Arzt hatte ihm vorgeschlagen, in einer Gesprächstherapie sofort mit der Aufarbeitung seiner Erlebnisse zu beginnen. Wallander war das wie ein Befehl vorgekommen, den er einfach nur zu befolgen hatte. Aber was würde er eigentlich sagen können?
Vor ihm lag eine Einladung zur Hochzeit seines Vaters. Er wußte nicht, wie oft er
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