Wallander 03 - Die weisse Löwin
auf der Bettkante sitzen. Judith wachte auf und erkundigte sich, ob irgend etwas passiert sei.
»Keine Gefahr für uns. Aber vielleicht für jemand anderen«, erwiderte er.
Er wählte Borstlaps Nummer. »Ein neues Fax aus Schweden. Es geht nicht mehr um Victor Mabasha, sondern um einen Mann namens Sikosi Tsiki. Das Attentat wird vermutlich morgen geschehen.«
»Verdammt«, fluchte Borstlap.
Sie vereinbarten, sich umgehend in Scheepers’ Büro zu treffen.
Judith sah, daß ihr Mann besorgt war. »Was ist denn geschehen?« fragte sie noch einmal.
»Das Allerschlimmste«, antwortete er.
Dann begab er sich in die Dunkelheit hinaus. Es war neunzehn Minuten nach Mitternacht.
|529| 35
Freitag, der 12. Juni, war ein klarer, aber etwas kühler Tag in Kapstadt. Am Morgen war eine Nebelbank vom Meer her in die Three Anchor Bay getrieben. Inzwischen aber hatte sie sich aufgelöst. Auf der südlichen Halbkugel kündigte sich die kühle Jahreszeit an. Viele Afrikaner trugen auf dem Weg zur Arbeit bereits Strickmützen und dicke Jacken.
Nelson Mandela war am Abend zuvor in Kapstadt eingetroffen. Als er im Morgengrauen erwachte, dachte er an den Tag, der kommen sollte. So war es Brauch gewesen in den vielen Jahren, die er als Gefangener auf Robben Island verbracht hatte. Ein Tag und noch ein Tag, das war die Zeitrechnung, die für ihn und seine Mitgefangenen galt. Auch jetzt noch, nach mehr als zwei Jahren in der wiedergewonnenen Freiheit, fiel es ihm schwer, seine alte Angewohnheit ganz aufzugeben.
Er stieg aus dem Bett und trat ans Fenster. Dort draußen im Meer lag Robben Island. Er versank in gedankenvollem Grübeln. So viele Erinnerungen, so viele bittere Momente, so groß schließlich der Triumph.
Er dachte daran, daß er ein alter Mann von mehr als siebzig Jahren war. Die Zeit war bemessen, er würde, wie alle anderen auch, nicht ewig leben. Aber ein paar Jahre mußte er wenigstens noch durchhalten. Zusammen mit Präsident de Klerk hatte er das Land durch das schwere, nicht ungefährliche, aber auch wunderbare Fahrwasser zu steuern, das zur Befreiung Südafrikas vom Apartheidsystem führen sollte. Die letzte koloniale Festung auf dem schwarzen Kontinent würde endlich fallen. Wenn dieses Ziel erreicht war, konnte er sich zurückziehen und auch sterben, wenn es sein sollte. Aber noch war seine Lebenskraft sehr groß. So lange wie möglich wollte er dabeisein und sehen, wie sich die schwarze Bevölkerung von den vielen Jahrhunderten der Unterwerfung und Erniedrigung befreite. Der Weg dahin würde mühsam sein, das wußte er. Die Wurzeln der Unterdrückung saßen tief in der afrikanischen Seele.
Nelson Mandela war klar, daß er zum ersten schwarzen Präsidenten |530| Südafrikas gewählt werden würde. Er strebte nicht nach diesem Amt. Aber er hätte auch keine Argumente, es zu verweigern.
Es ist ein langer Weg, dachte er. Ein langer Weg für einen Mann, der die Hälfte seines Erwachsenenlebens in Gefangenschaft zugebracht hat.
Bei dem Gedanken lächelte er vor sich hin. Aber dann wurde er wieder ernst. Ihm fiel ein, was ihm de Klerk bei ihrem letzten Treffen vor einer Woche mitgeteilt hatte. Eine Gruppe ranghoher Buren hatte sich verschworen, um ihn zu töten. Um Chaos zu schaffen, das Land an den Rand eines Bürgerkriegs zu treiben.
Konnte das wirklich möglich sein? Daß es fanatische Buren gab, wußte er. Menschen, die alle Schwarzen haßten, sie als seelenlose Tiere betrachteten. Aber glaubten sie wirklich, daß sie durch eine solche Tat verhindern konnten, was im Lande geschah? Konnten sie wirklich durch ihren Haß – oder war es vielleicht Angst – so blind geworden sein zu glauben, eine Rückkehr zu einem alten Südafrika sei möglich? Merkten sie nicht, daß sie eine verschwindende Minderheit vertraten? Sicher, sie hatten nach wie vor großen Einfluß. Aber dennoch. Waren sie wirklich willens, die Zukunft in einem Blutbad zu opfern?
Nelson Mandela schüttelte leicht den Kopf. Es fiel ihm schwer zu glauben, daß das möglich sein sollte. De Klerk mußte übertrieben oder Informationen falsch gedeutet haben. Er selbst hatte jedenfalls keine Angst, daß ihm irgend etwas geschehen würde.
Auch Sikosi Tsiki war am Donnerstag abend in Kapstadt angekommen. Im Unterschied zu der Mandelas war seine Ankunft aber unbeachtet geblieben. Er war mit dem Bus aus Johannesburg angereist und nach dem Aussteigen mit seiner Tasche schnell in der Dunkelheit verschwunden.
Die Nacht hatte er im Freien verbracht. Zum
Weitere Kostenlose Bücher