Wallander 04 - Der Mann, der lächelte
Ahnung?«
»Ich glaube nicht. Die beiden führten separate Terminkalender.«
»Mit anderen Worten: Nur Sie haben von dem Besuch gewußt.«
»Ja.«
»Ich bitte nochmals um Entschuldigung für die Störung«, sagte Wallander und beendete das Gespräch.
Er widmete sich wieder seinen Aufzeichnungen. Gustaf Torstensson fährt zu einem Klienten. Auf dem Heimweg wird ein Attentat auf ihn verübt; ein Mord, als Autounfall getarnt.
Er dachte an Frau Dunérs Antwort, sie sei die einzige, die von der Fahrt des alten Anwalts gewußt habe.
Sie hat die Wahrheit gesagt. Aber der Schatten der Wahrheit interessiert mich mehr. Denn eigentlich bedeutet ihre Antwort, daß außer ihr nur der Mann auf Schloß Farnholm wußte, was Gustaf Torstensson an diesem Abend tun würde.
Er setzte seine Gedankenwanderung fort. Die Szenerie einer Ermittlung änderte sich unaufhörlich. Da war das düstere Haus mit dem komplizierten Sicherheitssystem und der im Keller verborgenen Ikonensammlung. Als er nicht weiterzukommen schien, wechselte er zu Sten Torstensson. Nun kam er sich vor wie in einem undurchdringlichen Dickicht. Sten Torstenssons unerwartete Ankunft in seinem stürmischen Revier an der Küste, mit Nebelhörnern vom Meer her, und das verlassene Café im Kunstmuseum schienen Wallander Bestandteile einer zweifelhaften Operettenintrige zu sein. Aber es gab in der Inszenierung Augenblicke, in denen das Leben ernst genommen wurde. Wallander bezweifelte nicht, daß Sten Torstensson seinen Vater wirklich unruhig und aufgeregt erlebt hatte. Er bezweifelte ebensowenig, daß die von unbekannter Hand abgeschickte Ansichtskarte aus Finnland, die von Sten Torstensson bestellt worden war, eine Botschaft enthielt; eine Bedrohung existierte, die eine falsche Fährte erzwang. Falls nicht die falsche Fährte die Wahrheit war.
|88| Nichts paßt zusammen, dachte Wallander. Aber dennoch lassen sich die Dinge irgendwie einordnen. Schlimmer ist es mit den losen Enden, mit der Asiatin zum Beispiel, die nicht will, daß jemand sieht, wie sie Berta Dunérs rosa Haus betritt. Und Frau Dunér selbst, die geschickt lügt, aber nicht geschickt genug. Man ahnt, daß da etwas nicht stimmt.
Wallander stand auf, streckte den Rücken und trat ans Fenster. Sechs Uhr, es war bereits dunkel. Vom Flur her waren vereinzelt Geräusche zu hören; Schritte näherten sich und verhallten dann. Eine Bemerkung Rydbergs kam ihm in den Sinn: »Ein Polizeigebäude ist im Grunde wie ein Gefängnis gebaut. Wir leben wie spiegelverkehrte Abbildungen voneinander, Verbrecher und Polizisten. Wir können nie wissen, wer sich eigentlich innerhalb oder außerhalb der Mauern befindet.«
Wallander fühlte sich plötzlich müde und verlassen. Wie immer in solchen Situationen griff er auf den einzigen Trost zurück, den er hatte: Er begann, in Gedanken mit Baiba Liepa in Riga zu sprechen, als stünde sie vor ihm im Raum, als wäre der Raum ein anderer, als befände er sich in einem grauen Rigaer Haus mit verwitterter Fassade, in der Wohnung mit dem gedämpften Licht und den schweren, stets zugezogenen Vorhängen. Aber das Bild verlor an Kraft und verblaßte. Statt dessen sah Wallander sich selbst, wie er auf lehmbeschmierten Knien durch den schonischen Nebel kroch, ein Schrotgewehr in der einen, eine Pistole in der anderen Hand – die pathetische Kopie eines unglaubwürdigen Filmhelden; aber dann riß der Film, und die Wirklichkeit zeigte sich, und plötzlich war der Tod keine Idee des Drehbuchautors mehr, sondern nackte Realität. Er sah sich selbst, wie er als Augenzeuge einer Exekution beiwohnte; ein Mensch wurde durch einen Schuß direkt in die Stirn umgebracht. Und dann schießt er selbst, und er weiß eines ganz genau: Er will, daß der Mann, auf den er zielt, stirbt.
Ich bin ein Mensch, der zu selten lacht, dachte er. Ohne daß ich es gemerkt habe, bin ich in meinen sogenannten besten Jahren auf eine Küste zugetrieben, vor der gefährliche Klippen lauern.
|89| Er verließ sein Büro, ohne irgendwelche Unterlagen mitzunehmen. Ebba in der Anmeldung telefonierte. Als sie ihm ein Zeichen machte, daß es noch einen Moment dauern würde, wedelte er abwehrend mit den Händen und signalisierte, er habe an diesem Abend noch etwas Wichtiges vor.
Dann fuhr er nach Hause und machte sich Abendbrot, an das er sich nach dem Essen nicht mehr erinnern konnte. Er goß die fünf Blumentöpfe auf den Fensterbrettern und stopfte die herumliegenden schmutzigen Kleidungsstücke in den Wäschekorb. Dann
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