Wallander 04 - Der Mann, der lächelte
trennten sich vor dem Polizeigebäude. Wallander fuhr nach Hause und aß in der Küche ein paar belegte Brote, bevor er zu Bett ging. Lange wälzte er sich hin und her; er konnte einfach nicht einschlafen. Schließlich stand er wieder auf und setzte sich, ohne Licht zu machen, an den Küchentisch. Die Straßenbeleuchtung, die durch die Fenster drang, verwandelte den Raum in eine geheimnisvolle Schattenwelt. Wallander spürte, wie aufgeregt und ungeduldig er war. In diesem Fall gab es zu viele lose Enden. Selbst jetzt, da sie sich für einen Weg entschieden hatten, zweifelte er noch, ob ihre Wahl richtig war. Hatten sie etwas Entscheidendes vergessen? Er dachte an den Tag zurück, als ihm Sten Torstensson am Strand von Jütland entgegengekommen war. Das Gespräch hatte sich ihm wortwörtlich eingeprägt. Und dennoch fragte er sich, ob er die eigentliche Botschaft des Anwalts vielleicht gar nicht verstanden hatte – weil sie hinter den Sätzen verborgen war.
Als er sich wieder hinlegte, war es nach vier. Draußen heulte |225| der Wind, und die Temperatur war merklich gefallen. Er fröstelte, als er unter die Decke kroch. Es schien ihm, als wäre er keinen Schritt weitergekommen. Ebenso vergeblich hatte er sich einzureden versucht, es käme lediglich darauf an, Geduld zu zeigen. Was er von seinen Kollegen forderte, schien er selbst nicht aufbringen zu können.
Als Wallander kurz vor acht das Polizeigebäude betrat, war der Wind zum Sturm geworden. An der Anmeldung erfuhr er, daß am Vormittag mit Orkanböen zu rechnen war. Ob das Dach vom Haus seines Vaters in Löderup standhalten würde? Er hatte schon lange ein schlechtes Gewissen, weil das Dach neu gedeckt werden mußte. Es bestand die Gefahr, daß der Sturm es herunterriß. Er setzte sich an seinen Schreibtisch und beschloß, seinen Vater wenigstens anzurufen. Aber da klingelte das Telefon.
»Ein Gespräch für dich«, sagte Ebba. »Ist das nicht ein scheußliches Wetter?«
»Tröste dich, es soll noch schlimmer werden. Wer ist denn dran?«
»Schloß Farnholm.«
Wallander setzte sich ruckartig auf. »Stell durch«, sagte er.
»Die Dame hat sich übrigens mit einem bemerkenswerten Namen vorgestellt: Jenny Lind«, sagte Ebba.
»Klingt doch ganz normal, oder?«
»Hast du noch nie von der berühmten Sängerin gehört?«
»Schon gut, Ebba. Laß mich jetzt mit ihr reden.«
Es schien die Stimme einer jungen Frau zu sein. Wieder eine von den vielen Sekretärinnen, dachte Wallander.
»Kommissar Wallander?«
»Am Apparat.«
»Bei Ihrem Besuch baten Sie darum, mit Doktor Harderberg sprechen zu dürfen …«
»Das hört sich ja an, als wollten Sie mir eine Audienz verschaffen«, fiel ihr Wallander ins Wort. »Ich habe ihn in einem Mordfall zu vernehmen.«
»Das ist mir klar. Heute früh erhielten wir ein Telex, in dem |226| Doktor Harderberg mitteilt, daß er am Nachmittag nach Hause kommt. Er könnte Sie morgen empfangen.«
»Woher kam das Telex?«
»Spielt das eine Rolle?«
»Sonst hätte ich wohl nicht gefragt.«
»Doktor Harderberg hält sich derzeit in Barcelona auf.«
»Ich möchte nicht bis morgen warten«, sagte Wallander. »Ich muß so schnell wie möglich mit ihm reden. Wenn er heute nachmittag nach Schweden kommt, würde ich gern noch am Abend mit ihm sprechen.«
»Er hat meines Wissens heute abend noch keinen Termin«, sagte Jenny Lind. »Aber ich muß ihn erst in Barcelona anrufen, bevor ich eine Zusage machen kann.«
»Machen Sie, was Sie wollen, aber teilen Sie ihm mit, daß er heute abend um sieben Uhr Besuch von der Polizei aus Ystad bekommt.«
»Darauf kann ich mich nicht einlassen. Doktor Harderberg entscheidet stets selbst, wen er wann empfängt.«
»Diesmal nicht«, sagte Wallander. »Punkt sieben Uhr sind wir da.«
»Sie kommen in Begleitung, Kommissar Wallander?«
»Ja.«
»Darf ich um den Namen der betreffenden Person bitten?«
»Bitten dürfen Sie, aber erfahren werden Sie ihn nicht. Ich kann Ihnen jedoch verraten, daß es sich um einen weiteren Kriminalisten aus Ystad handelt.«
»Ich werde mit Doktor Harderberg in Verbindung treten. Ich muß Sie aber darauf hinweisen, daß er seine Pläne zuweilen kurzfristig ändert. Es kann sein, daß seine Anwesenheit an einem anderen Ort notwendig wird, bevor er nach Hause kommt.«
»Das kann ich nicht gestatten«, sagte Wallander. Es war ihm bewußt, daß er mit dieser Bemerkung seine Befugnisse erheblich überschritt.
»Ich muß mich sehr wundern«, sagte Jenny Lind.
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