Wallander 05 - Die falsche Fährte
Süden angetreten hatten. Es war ein Augenblick von großer Einsamkeit, aber auch von großer Schönheit und einer grundlegenden Gewißheit gewesen, daß etwas vorbei war und etwas anderes folgen würde. Er hatte in diesem Moment erlebt, daß er immer noch die Fähigkeit besaß, sich selbst zu fühlen.
Er erinnerte sich auch an eins seiner letzten Gespräche mit Mats Ekholm zu einem Zeitpunkt, als die Suche nach dem Mörder schon lange beendet war.
Ekholm war Mitte August nach Ystad gekommen, um noch einmal das gesamte Ermittlungsmaterial durchzugehen. Wallander hatte ihn am Abend, bevor Ekholm endgültig nach Stockholm zurückkehrte, zu einem einfachen Spaghettiessen bei sich zu Hause eingeladen. Sie hatten bis vier Uhr morgens aufgesessen und sich unterhalten. Wallander hatte Whisky gekauft, sie wurden beide betrunken, und Wallander stellte immer wieder die gleiche Frage, wie es kam, daß junge Menschen, die kaum den Kinderschuhen entwachsen waren, derartige Grausamkeiten begehen konnten. Ekholms Kommentare irritierten ihn, weil sie Wallanders Ansicht nach ausschließlich die menschliche Psyche als Erklärung heranzogen. Wallander hielt dagegen, daß das Umfeld, die unbegreifliche Welt, der unausweichliche Deformierungsprozeß, dem alle Menschen unterworfen waren, eine noch größere Schuld trugen. Ekholm beharrte jedoch auf seiner Auffassung, die Gegenwart sei nicht schlechter als irgendeine andere Zeit. Auch wenn die schwedische Gesellschaft ins Wanken geraten war, auch wenn es in ihren Fugen knackte, war das noch keine Erklärung für das Auftreten einer Person wie Stefan Fredman. Die schwedische Gesellschaft war noch immer eine der sichersten, geordnetsten und – Wallander erinnerte sich, daß Ekholm immer wieder auf das Wort zurückgekommen war –
saubersten
in der Welt. Stefan Fredman war eine Ausnahme, die nichts bewies, nur ihre eigene |498| Existenz. Er war eine Ausnahme, die wohl kaum jemals eine Wiederholung erfahren würde. Wallander hatte in jener Augustnacht versucht, von all den Kindern zu sprechen, denen Schlechtes widerfuhr. Doch er hatte zu Ekholm gesprochen, als habe er eigentlich gar keinen Gesprächspartner. Seine Gedanken waren ungeordnet. Aber dem Gefühl, das ihn beunruhigte, konnte er nicht entkommen. Er machte sich Sorgen. Für die Zukunft. Er fürchtete die Kräfte, die sich zu sammeln und zum Kampf zu rüsten schienen, jenseits aller Möglichkeiten der Kontrolle.
Er hatte oft an Stefan Fredman gedacht. Hatte darüber nachgegrübelt, warum er selbst so hartnäckig einer falschen Fährte gefolgt war. Die Vorstellung, ein vierzehnjähriger Junge könnte für die Morde verantwortlich sein, war ihm so unmöglich erschienen, daß er sich geweigert hatte, an sie zu glauben. Doch in seinem Innersten hatte er geahnt – vielleicht schon an jenem ersten Morgen, als er ihm in der Wohnung in Rosengård begegnete –, daß er sich sehr nahe an der grauenhaften Wahrheit über die Geschehnisse befand, die ihn verfolgten. Er hatte es geahnt, sich aber dennoch für die falsche Fährte entschieden, weil es ihm unmöglich war, die Wahrheit zu akzeptieren.
Um Viertel nach sieben verließ er die Wohnung und ging zu seinem Auto. Die Luft war kalt. Er zog den Reißverschluß seiner Jacke zu und setzte sich fröstelnd ans Steuer. Unterwegs dachte er an die Besprechung, die er an diesem Morgen haben sollte.
Um Punkt acht Uhr klopfte er an Lisa Holgerssons Tür. Als er ihre Stimme hörte, trat er ein. Sie nickte ihm zu und bat ihn, sich zu setzen. Wallander dachte flüchtig, daß sie erst seit drei Wochen als ihre neue Chefin Dienst tat, nachdem Björk eine Sprosse auf der Karriereleiter nach oben gestiegen war. Dennoch hatte sie der Arbeit und der Atmosphäre bereits in vieler Hinsicht ihren Stempel aufgedrückt.
Viele hatten der Frau, die aus einem Polizeibezirk in Småland kam, Skepsis entgegengebracht. Wallander war außerdem von Kollegen umgeben, die in der althergebrachten Vorstellung lebten, Frauen eigneten sich grundsätzlich nicht für die praktische Polizeiarbeit. Wie sollten sie da ihre Vorgesetzten sein können? Doch Lisa Holgersson hatte sehr schnell ihre Fähigkeiten unter |499| Beweis gestellt. Wallander war beeindruckt von ihrer Integrität, ihrer Unerschrockenheit und ihrer Fähigkeit, vorbildlich klare Sachdarstellungen zu liefern, egal, um welches Thema es sich handelte.
Am Tag zuvor hatte sie ihn zu diesem Gespräch gebeten. Als Wallander jetzt auf ihrem Besucherstuhl Platz nahm,
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