Wallander 05 - Die falsche Fährte
sehr beklommen zumute.
Als sie das Präsidium verließen, hatte es zu regnen begonnen. Dolores Marias Vater fror, als er da neben Wallander ging, dem er kaum bis zu den Achseln reichte. In Wallanders Wagen fuhren sie zum Friedhof. Sie gingen zwischen den niedrigen Grabsteinen hindurch und blieben vor dem Erdhügel stehen, unter dem Dolores Maria begraben lag. Er war mit einem Holzkreuz versehen, auf dem eine Nummer stand. Wallander nickte und trat einen Schritt zurück.
Der Mann fiel vor dem Grab auf die Knie. Dann begann er zu weinen. Er neigte das Gesicht zu der nassen Erde, schluchzte und sprach Worte, die Wallander nicht verstand. Wallander spürte, wie auch ihm Tränen in die Augen traten. Er sah den Mann an, der die weite Reise unternommen hatte, und dachte an das Mädchen, das in dem Rapsfeld vor ihm davongelaufen war und dann wie eine Fackel gebrannt hatte. Ein gewaltiger Zorn erfüllte ihn.
Die Barbarei trägt immer menschliche Züge, dachte er.
Und das macht die Barbarei so unmenschlich. Er hatte das irgendwo gelesen. Jetzt wußte er, daß es stimmte.
Er hatte bald fünfzig Jahre gelebt. In dieser Zeit hatte er gesehen, wie sich die Gesellschaft um ihn her veränderte, und er war ein Teil dieser Veränderung gewesen. Aber erst jetzt erkannte er, daß nur ein Teil dieser dramatischen Veränderung sichtbar gewesen war. Etwas war auch darunter vor sich gegangen, im verborgenen. |502| Der Aufbau hatte einen Schatten in Form der unsichtbaren Zerstörung, die gleichzeitig stattgefunden hatte. Wie eine Virusinfektion mit langer und symptomfreier Inkubationszeit. Früher, als er ein junger Polizist war, galt es als selbstverständlich, daß alle Probleme ohne Gewaltanwendung gelöst werden konnten, es sei denn in äußersten Notfällen. Dann hatte eine gradweise Verschiebung eingesetzt zu einem Punkt hin, wo man nie ausschließen konnte, daß Gewalt notwendig sein konnte, um gewisse Probleme zu lösen. Und heute war diese Verschiebung abgeschlossen.
Konnte man noch Probleme lösen, ohne zu Gewalt zu greifen?
Wenn es sich so verhielt, wie er immer stärker zu fürchten begann, dann machte die Zukunft ihm angst. Dann hatte die Gesellschaft sich einmal um sich selbst gedreht und war als ein Ungeheuer wieder zum Vorschein gekommen.
Nach einer halben Stunde erhob sich der Mann von dem Grab. Er schlug ein Kreuz und wandte sich dann um. Wallander senkte den Blick. Er konnte den Anblick dieses Gesichts kaum ertragen.
Er nahm den Mann mit in die Mariagatan. Ließ ihn ein warmes Bad nehmen.
Den Friseurtermin sagte er ab. Während Pedro Santana in der Badewanne lag, ging Wallander seine Taschen durch und fand seinen Paß und den Flugschein. Pedro Santana würde schon am Sonntag in die Dominikanische Republik zurückkehren. Wallander rief im Polizeipräsidium an und bat Ebba, Ann-Britt Höglund für ihn zu suchen. Er erklärte ihr, was geschehen war. Sie hörte ihm zu, ohne Fragen zu stellen. Danach versprach sie ihm zu tun, worum er sie bat.
Eine halbe Stunde später kam sie in seine Wohnung. Im Flur gab sie Wallander das, worauf er wartete.
»Was wir tun, ist natürlich ungesetzlich«, sagte sie.
»Natürlich«, gab er zurück. »Aber ich nehme das auf meine Kappe.«
Sie begrüßte Pedro Santana, der aufrecht und steif auf Wallanders Sofa saß. Sie suchte ihr weniges Spanisch zusammen.
Dann gab Wallander ihm den Kettenanhänger mit dem Madonnenbild, den sie im Rapsfeld gefunden hatten.
|503| Er saß lange da und betrachtete ihn. Dann wandte er ihnen den Blick zu und lächelte.
Sie trennten sich im Flur. Er sollte bei Ann-Britt Höglund wohnen.
Sie würde sich darum kümmern, daß er am Sonntag sein Flugzeug erreichte.
Wallander stand am Küchenfenster und sah ihn in ihr Auto steigen. Sein Zorn war groß.
Gleichzeitig hatte er das Gefühl, daß die lange Ermittlung genau in diesem Augenblick zu Ende ging. Stefan Fredman befand sich irgendwo in Gewahrsam. Er würde leben. Seine Schwester Louise war tot. Wie Dolores Maria Santana lag sie in ihrem Grab. Die Ermittlung war beendet.
Was blieb, war Wallanders Zorn.
Er kehrte an diesem Tag nicht mehr ins Polizeipräsidium zurück. Die Begegnung mit Pedro Santana hatte ihn das ganze Geschehen noch einmal durchleben lassen. Er packte seinen Koffer, ohne sich dessen, was er tat, richtig bewußt zu sein. Mehrmals trat er ans Fenster und blickte geistesabwesend auf die Straße und in den Regen hinaus, der zunahm. Erst spät am Nachmittag gelang es ihm, seine
Weitere Kostenlose Bücher