Wallander 06 - Die fünfte Frau
gekommen war, obwohl sie eigentlich keine Zeit hatte, und die sich um ihn gekümmert hatte. Aber sie hatte ihn auch bedrängt, hatte ihn dazu gezwungen, einzusehen, daß die Schuld in Wirklichkeit nicht seine, sondern die der Umstände war. Mit Lindas Hilfe war es ihm gelungen, sich durch die ersten schrecklichen Novemberwochen zu schleppen. Neben der Anstrengung, sich überhaupt aufrecht zu halten, hatte er seine ganze Kraft Yvonne Ander gewidmet. Sie hatte geschossen, sie hätte Ann-Britt Höglund töten können, wenn der Zufall es so gewollt hätte. Aber nur im Anfang hatte er Anfälle von Aggressivität gehabt und Lust verspürt, sie zu schlagen. Danach wurde es wichtiger für ihn zu verstehen, wer sie eigentlich war. Er war auch derjenige, dem es schließlich gelang, ihr Schweigen zu durchdringen und sie zum Sprechen zu bringen. Er band sich das Seil um und machte sich an den Abstieg.
Was fand er dort unten? Lange war er im Zweifel, ob sie nicht trotz allem wahnsinnig war, ob all das, was sie über sich selbst sagte, nicht verworrene Träume und krankhaft deformierte Einbildungen waren. Er verließ sich in dieser Zeit auch nicht auf sein eigenes Urteilsvermögen, und es gelang ihm nur schlecht, sein Mißtrauen gegen sie zu verbergen. Aber irgendwo ahnte er die ganze Zeit, daß sie tatsächlich nichts anderes tat, als zu sagen, was war. Sie sagte die Wahrheit. Irgendwann Mitte November drehten sich Wallanders Vorstellungen einmal um ihre eigene Achse. Als er zum Ausgangspunkt zurückkam, war es ihm, als sähe er alles mit neuen Augen. Er zweifelte nicht länger daran, daß sie die Wahrheit sagte. Er erkannte außerdem, daß Yvonne Ander einer der überaus seltenen Menschen war, die praktisch niemals logen.
Er hatte die Briefe von ihrer Mutter gelesen. Im letzten Bündel, das er öffnete, hatte ein eigenartiger Brief einer algerischen |547| Polizeibeamtin namens Françoise Bertrand gelegen. Zuerst hatte er den Inhalt des Briefes nicht begriffen. Das Schriftstück hatte mit mehreren unbeendeten Briefen der Mutter zusammengelegen, die nie abgeschickt worden waren, und alle waren im Jahr zuvor in Algerien geschrieben worden. Françoise Bertrand hatte ihren Brief an Yvonne Ander im August 1993 geschickt. Es hatte ihn einige Stunden nächtlichen Grübelns gekostet, die Antwort zu finden. Dann verstand er. Yvonne Anders Mutter, Anna Ander, war aufgrund eines Irrtums, eines sinnlosen Zufalls, ermordet worden, und die algerische Polizei hatte das Ganze vertuscht. Es gab offenbar einen politischen Hintergrund, einen Terrorakt, wenngleich Wallander sich nicht in der Lage sah, ganz zu verstehen, worum es dabei ging. Aber Françoise Bertrand hatte in größtem Vertrauen geschrieben und erzählt, was wirklich geschehen war. Ohne daß er zu diesem Zeitpunkt schon irgendeine Hilfe von Yvonne Ander bekommen hatte, sprach er mit Lisa Holgersson darüber, was der Mutter zugestoßen war. Lisa Holgersson hatte zugehört und danach Kontakt mit der Reichskriminalbehörde aufgenommen. Da verschwand die Angelegenheit zunächst aus Wallanders Blickfeld. Dann hatte er alle Briefe noch einmal gelesen.
Wallander hatte Yvonne Ander in der Haft aufgesucht. Sie hatte langsam eingesehen, daß er ein Mann war, der sie nicht jagte. Er war anders als die anderen, die Männer, die die Welt bevölkerten, er war in sich selbst versunken, schien sehr wenig zu schlafen, und außerdem wirkte er, als werde er von Unruhe gequält. Zum erstenmal in ihrem Leben entdeckte Yvonne Ander, daß sie zu einem Mann tatsächlich Vertrauen haben konnte. Das sagte sie ihm auch bei einer ihrer letzten Begegnungen.
Sie fragte ihn nie geradeheraus, aber sie glaubte trotzdem, die Antwort zu wissen. Er hatte bestimmt nie eine Frau geschlagen. Und wenn, dann nur ein einziges Mal. Nicht öfter, nie wieder.
Der Abstieg hatte am 3. November begonnen. Am gleichen Tag wurde Ann-Britt Höglund zum drittenmal operiert. Alles verlief gut, und ihre endgültige Genesung konnte beginnen. Wallander entwickelte in diesem November eine Routine. Nach seinen |548| Gesprächen mit Yvonne Ander fuhr er stets direkt ins Krankenhaus. Ann-Britt Höglund war der Gesprächspartner, den er brauchte, um zu verstehen, wie er tiefer eindringen konnte in den Abgrund, in den er bereits geblickt hatte.
Seine erste Frage an Yvonne Ander betraf das, was sich in Algerien abgespielt hatte. Wer war Françoise Bertrand? Was war eigentlich geschehen?
Ein blasses Licht fiel durch das Fenster des
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