Wallander 06 - Die fünfte Frau
Raums, in dem sie einander gegenüber an einem Tisch saßen. Von irgendwo hörte man ein Radio und jemand, der an eine Wand pochte. Die ersten Sätze, die sie sagte, verstand er gar nicht. Es war wie ein gewaltiges Dröhnen, als das Schweigen endlich gebrochen wurde. Er hatte nur ihre Stimme wahrgenommen, die er bis dahin nicht gehört, sondern sich nur vorzustellen versucht hatte.
Dann begann er zuzuhören. Er machte sehr selten Notizen während ihrer Gespräche und hatte auch kein Tonbandgerät eingeschaltet.
»Irgendwo gibt es einen Mann, der meine Mutter getötet hat. Wer sucht ihn?«
»Ich nicht«, hatte er geantwortet. »Aber wenn Sie erzählen, was passiert ist, und wenn eine schwedische Bürgerin im Ausland getötet worden ist, müssen wir natürlich reagieren.«
Er hatte ihr nichts von dem Gespräch erzählt, das er einige Tage zuvor mit Lisa Holgersson geführt hatte. Daß der Tod ihrer Mutter bereits untersucht wurde.
»Niemand weiß, wer meine Mutter getötet hat«, fuhr sie fort. »Ein sinnloser Zufall hat sie als Opfer ausersehen. Die sie getötet haben, kannten sie nicht. Sie rechtfertigten sich selbst. Sie meinten, daß sie töten konnten, wen sie wollten. Auch eine unschuldige Frau, die auf ihre alten Tage alle die Reisen machte, für die sie vorher keine Zeit oder kein Geld hatte.«
Er spürte ihre Verbitterung und ihren Zorn. Sie machte keinen Versuch, sie zu verbergen.
»Warum hielt sie sich bei den Nonnen auf?« fragte er.
Plötzlich sah sie vom Tisch auf und ihm direkt ins Gesicht.
»Wer hat Ihnen eigentlich das Recht gegeben, meine Briefe zu lesen?«
|549| »Niemand. Aber sie gehören Ihnen. Einem Menschen, der mehrere schwere Morde begangen hat. Sonst hätte ich sie natürlich nicht gelesen.«
Sie wandte den Blick ab.
»Die Nonnen«, wiederholte Wallander. »Warum wohnte sie bei ihnen?«
»Sie hatte nicht viel Geld. Sie wohnte da, wo es billig war. Sie konnte ja nicht ahnen, daß das ihren Tod bedeutete.«
»Dies ist vor über einem Jahr passiert. Wie haben Sie reagiert, als der Brief kam?«
»Es gab für mich keinen Grund mehr zu warten. Wie sollte ich rechtfertigen, daß ich nichts tat? Wenn sich sonst niemand darum kümmerte?«
»Um was kümmerte?«
Sie antwortete nicht. Er wartete.
Dann änderte er seine Frage. »Womit zu warten?«
Sie antwortete, ohne ihn anzusehen. »Sie zu töten.«
»Wen?«
»Die Männer, die frei herumliefen, trotz allem, was sie getan hatten.«
Da sah er, daß er richtig gedacht hatte. Als sie den Brief von Françoise Bertrand erhielt, war eine bis dahin gebundene Kraft in ihr freigesetzt worden. Sie hatte sich mit Rachegedanken getragen, sich aber immer noch kontrollieren können. Dann waren alle Dämme gebrochen, und sie hatte begonnen, das Gesetz selbst in die Hand zu nehmen.
Wallander dachte später, daß eigentlich kein großer Unterschied bestand zu dem, was in Lödinge passiert war. Sie war ihre eigene Bürgerwehr gewesen. Sie hatte außerhalb des Ganzen Stellung bezogen und ihr eigenes Recht gesprochen.
»War es so?« fragte er. »Daß Sie Recht sprechen wollten? Sie wollten die bestrafen, die nie vor Gericht kamen?«
»Wer sucht den Mann, der meine Mutter getötet hat?« antwortete sie. »Wer?«
Dann versank sie wieder in Schweigen. Wallander dachte noch einmal darüber nach, wie alles angefangen hatte. Einige Monate nachdem der Brief aus Algerien gekommen war, war sie |550| bei Holger Eriksson eingebrochen. Das war der erste Schritt. Als Wallander sie ohne Umschweife fragte, ob es sich so verhielte, war sie nicht einmal überrascht. Sie ging davon aus, daß er es wußte.
»Ich hatte von Krista Haberman gehört«, sagte sie. »Daß es dieser Autohändler war, der sie getötet hat.«
»Von wem haben Sie das gehört?«
»Von einer Polin, die im Krankenhaus in Malmö lag. Das ist jetzt viele Jahre her.«
»Sie haben damals im Krankenhaus gearbeitet?«
»Ich habe mehrmals dort gearbeitet. Ich habe oft mit Frauen gesprochen, die mißhandelt worden waren. Sie hatte eine Freundin, die Krista Haberman kannte.«
»Warum waren Sie in Holger Erikssons Haus?«
»Ich wollte mir beweisen, daß es möglich war. Außerdem suchte ich nach Hinweisen, daß Krista Haberman dort gewesen war.«
»Warum haben Sie die Grube gegraben? Warum die Stäbe? Warum der angesägte Steg? Hatte die Frau, die Krista Haberman kannte, den Verdacht, daß der Körper dort vergraben lag?«
Darauf gab sie nie eine Antwort. Wallander verstand auch so. Obwohl die
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