Wallander 06 - Die fünfte Frau
stehen und lauschte. Aber nichts war zu hören außer dem schwachen Rauschen des Windes. Er ging weiter. Vielleicht war es der Schmerz, der ihn beunruhigte? Die plötzlichen Stöße im Rücken? Die Unruhe hatte ihren Ursprung in ihm selbst.
|27| Wieder blieb er stehen und sah sich um. Da war nichts. Er war allein. Der Pfad führte abwärts. Dann würde er an einen Hügel kommen. Unmittelbar vor dem Hügel war ein breiter Graben, über den er einen Steg ausgelegt hatte. Auf der Spitze des Hügels stand dann sein Turm. Von seiner Haustür waren es genau zweihundertsiebenundvierzig Meter. Er überlegte, wie viele Male er den Pfad schon entlanggegangen war. Er kannte jede Biegung, jede Vertiefung. Dennoch ging er langsam und vorsichtig. Er wollte nicht riskieren, zu fallen und sich ein Bein zu brechen. Die Knochen alter Menschen wurden spröde. Das wußte er. Wenn er wegen eines Schenkelbruchs im Krankenhaus landete, würde er sterben, weil er es nicht aushielte, untätig in einem Krankenhausbett zu liegen. Er würde anfangen, über sein Leben nachzugrübeln. Und dann wäre er verloren.
Er hielt plötzlich inne. Ein Käuzchen schrie. Irgendwo in der Nähe knackte ein Zweig. Das Geräusch kam aus dem Wäldchen jenseits des Hügels, auf dem sein Turm stand. Er verharrte reglos, alle Sinne bis zum äußersten angespannt. Das Käuzchen schrie noch einmal. Dann war es wieder still. Er murmelte mißmutig vor sich hin, als er weiterging.
Alt und ängstlich, dachte er. Angst vor Gespenstern und Angst im Dunkeln.
Jetzt konnte er den Turm sehen. Ein schwarzer Schatten, der sich gegen den Nachthimmel abzeichnete. Noch zwanzig Meter, dann wäre er bei dem Steg, der über den tiefen Graben führte. Er ging weiter. Das Käuzchen war nicht mehr zu hören. Ein Waldkauz, dachte er.
Ganz sicher ein Waldkauz.
Plötzlich erstarrte er. Er hatte den Steg erreicht, der über den Graben führte.
Es war etwas mit dem Turm. Irgend etwas war anders. Er kniff die Augen zusammen, um in der Dunkelheit Einzelheiten zu erkennen. Er konnte nicht sagen, was es war. Aber etwas hatte sich verändert.
Ich sehe Gespenster, dachte er. Alles ist wie immer. Der Turm, den ich vor zehn Jahren gebaut habe, hat sich nicht verändert. Meine Augen sind schlechter geworden. Sonst nichts. Er tat |28| noch einen Schritt und kam auf den Steg und spürte die Holzplanken unter seinen Füßen. Er betrachtete noch immer den Turm.
Es kann nicht sein, dachte er. Wenn ich es nicht besser wüßte, würde ich glauben, daß der Turm seit gestern abend einen Meter höher geworden ist. Oder daß das Ganze ein Traum ist. Daß ich mich selbst dort auf dem Turm stehen sehe.
In demselben Augenblick, als er den Gedanken hatte, sah er, daß es so war. Jemand stand auf dem Turm. Ein unbeweglicher Schatten. Eine Angstwelle durchfuhr ihn wie ein Windhauch. Dann wurde er ärgerlich. Jemand drang auf seinen Grund und Boden ein, bestieg seinen Turm, ohne ihn um Erlaubnis zu bitten. Vermutlich ein Wilderer, der den Rehen auflauerte, die sich manchmal beim Wäldchen auf der anderen Seite des Hügels aufhielten. Daß es jemand war, der ebenfalls Vögel beobachten wollte, konnte er sich schwer vorstellen.
Er rief den Schatten auf dem Turm an. Keine Antwort. Keine Bewegung. Wieder wurde er unsicher. Spielten ihm seine schlechten Augen einen Streich?
Er rief noch einmal, ohne Antwort zu bekommen. Dann trat er auf den Steg hinaus.
Als die Planken unter ihm brachen, fiel er hilflos vornüber. Der Graben war mehr als zwei Meter tief. Er fiel, ohne die Arme ausstrecken zu können, um sich abzustützen.
Dann spürte er einen stechenden Schmerz. Er kam von nirgendwo und fuhr direkt durch ihn hindurch. Es war, als hielte jemand glühende Eisen an verschiedene Punkte seines Körpers. Der Schmerz war so stark, daß er nicht einmal zu schreien vermochte. Unmittelbar bevor er starb, sah er ein, daß er gar nicht bis auf den Boden des Grabens gefallen war. Er war in seinem eigenen Schmerz hängengeblieben.
Das letzte, woran er dachte, waren die Nachtvögel, die irgendwo hoch über ihm dahinzogen.
Der Himmel, der sich nach Süden bewegte.
Ein letztes Mal versuchte er, sich aus seinem Schmerz zu befreien.
Dann war alles vorbei.
|29| Es war zwanzig Minuten nach elf, am Abend des 21. September 1994.
Gerade in dieser Nacht zogen große Schwärme von Singdrosseln und Rotdrosseln nach Süden.
Sie kamen von Norden und flogen in südwestlicher Richtung genau über Falsterbo, auf dem Weg in die
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